Geisterstadt
In Prag wohnen die Geister in den Wirtshäusern. Man muss sie nur aus der Flasche befreien. Dazu gibt es Schinken und Buchteln.
Eigentlich wollte ich nur nachschauen, was die vielen Leute hier so interessant finden, und jetzt habe ich dieses Bier in der Hand. Ehrlich, ich habe nicht einmal im Traum daran gedacht, ein Bier zu bestellen. Aber wer kann sich wehren, wenn aus der weiß gekachelten Wand einer Metzgerei, in deren kleinem Verkaufsraum sich Dutzende Menschen drängen, ein Kupferrohr von nicht einmal einem Zentimeter Durchmesser herauswächst, aus dem eine goldgelbe Flüssigkeit rinnt – klar halte ich das Glas drunter, das mir der Mann hinter der Buddel in die Hand gedrückt hat. Dazu sagte er mir, das mit dem Essen dauert leider noch ein bisschen, es ist Hochbetrieb, du siehst ja selbst…
Stimmt, das mit dem Hochbetrieb sehe ich selbst. Ich sehe aber auch die vier Meter lange Vitrine, in der interessante Stücke vom Rind und vom Schwein liegen, dazu Würste in diversen Formen und Farben. Über der Theke hängt die Tafel, auf der die Preise vermerkt sind, und etwas weiter vorne, mit zwei silbernen Ketten an der vier oder fünf Meter hohen Decke befestigt, baumelt das schwarze Schild mit den weißen Steckbuchstaben, wie wir es aus den Amtsstuben des Prädigitalzeitalters kennen.
„Jídlo objednávejte zde“ steht hier in Versalien. „Order food here“.
Die Metzgerei heisst Naše Maso und befindet sich an der Dlouhá, mitten in Prags Altstadt, nicht weit von der Moldau entfernt und genauso wenig weit vom Mittelalter, das auch heute noch hinter jeder Ecke Prags überfallsartig ausbrechen kann, besonders nachts.
Aber jetzt ist zum Glück Mittag. Essenszeit. Die Metzgerei, wo schöne Stücke von tschechischen Chester-Rindern und Přeštice-Schweinen verkauft werden, verwandelt sich in ein Buffet. Was auch immer der Kundschaft gefällt, wird aus der Vitrine gepflückt, auf den Grill geworfen oder in einem der dampfenden Kessel gewärmt. Außerdem ist die kleine Metzgerei berühmt für ihren Hot Dog. Ich kann bezeugen: zu Recht. Denn weil ich mein Bier nicht auf nüchternen Magen trinken will, überbrücke ich die Zeit, während der mein prächtiges, großzügig geschnittenes Rib-Eye-Steak sich fauchend an die Hitze des Grills gewöhnt, mit einem Hot Dog plus scharfem, englischen Senf.
So bleibt mir ein bisschen Zeit, mich umzuschauen. An der Wand hängen ein paar Rindfleisch-Cuts, in Öl gemalt. Ein überdimensionales Weideschwein in Schwarzweiß. Ein Rind und die Landkarte seiner Teile. Die tschechische Flagge, weiß-rot-blau. Auf der Theke stehen Sandwiches, die in der Mitte gut drei Zentimeter Pastrami einklemmen. Eine Ankündigung macht darauf aufmerksam, dass es an jedem Montag, Dienstag, Mittwoch, im Naše Maso auch Abendessen gibt, „Butcher’s choice“ sozusagen, alle Gäste finden sich an einem gemeinsamen Tisch ein und essen, was sie kriegen.
Klingt ein bisschen italienisch, denke ich mir, während direkt aus der Wand das nächste Bier in mein Glas rinnt. Aber als ich Martin Plachý, einen der Inhaber, nach freien Plätzen für die nächsten Abende frage, lächelt er nur nachsichtig. Bitte früher fragen.
Naše Maso war übrigens nicht die einzige Metzgerei in Prag, wo mich das Gefühl übermannte, doch, genau, stimmt, so und nicht anders muss eine moderne Großstadtmetzgerei aussehen. Das zweite Musterbeispiel für ein Hybridunternehmen zwischen Fleischverkauf und Imbiss befindet sich ebenfalls ganz in der Nähe der Moldau, allerdings ein paar Brücken stromaufwärts dort, wo Frank Gehrys dekonstruktivistische Hochhäuser so schief miteinander tanzen, dass sie den Namen „Ginger & Fred“ bekamen, nach Fellinis gleichnamigem Epos über zwei alte, windschiefe Künstler. Das Geschäft trägt, wie frühere Kader der Kommunistischen Volkspartei sicher bemängelt hätten, den „internationalistischen“ Namen „The Real Meat Society“, und tatsächlich präsentiert sich der Laden mit seinen großen Schaufenstern gut gelaunt in der neuen Lingua franca: Meat Loaf! Porchetta! Czech Ham! Hot Sandwich next door!“ Nur ein kleiner Hinweis auf der schicken Schultafel vor dem Geschäft bietet die Verortung: „100 % České Maso“ – hundert Prozent tschechisches Fleisch.
Als ich die zwei, drei Stufen ins Geschäft hinunterstieg, empfing mich ein großartiger Duft. Der Metzger hatte gerade einen voluminösen Schweinsbraten aus dem Ofen geholt, den er sehr früh am Morgen eingebraten haben musste, und er konnte in meinen Augen lesen, dass ich davon ein Stück probieren wollte. In der Vitrine lagen die makellos zugeputzten, für den Verkauf vorgesehen Fleischstücke. In den Eisschränken hinter dem Verkaufsraum reiften Schweinehälften und riesige Rindfleisch-Cuts, einige ganz offensichtlich schon länger.
Aber meine Aufmerksamkeit wurde vom jungen, vorschriftsgemäß tätowierten Metzger in Anspruch genommen, der nämlich damit beschäftigt war, die Semmel, die zu meiner Schweinsbratenscheibe gehörte, anzutoasten und mir, Spezialität des Hauses, ein Schälchen mit Apfelmus dazu zu reichen. Als er merkte, wie gerührt ich dreinschaute – angetoastete Semmel! Apfelmus! –, bekam ich sogar noch ein Stück knuspriger Bratenkruste extra, als Bonus-Track. Der Mann wusste, dass es bei mir gut aufgehoben war und quittierte das vernehmliche Sgnagg-Sgnagg meiner Kauwerkzeuge mit einem großzügigen, zugewandten Lächeln.
Längst ist Prag keine Ostblockstadt mehr, vielmehr eine kräftig durchgelüftete, an manchen Stellen hipsterisierte, auch vom Massentourismus nicht im Stich gelassene Prachtkapitale. Als ich auf der Jirásek-Brücke herumlungerte, der Moldau beim Fließen und ein paar Enten beim Schwimmen zuschaute und überflüssigen, aber interessanten Gedanken nachhing, verglich ich im Kopf die ehemaligen Kronstädte der Habsburger-Monarchie.
Klar ist Wien von allen die kompletteste Stadt. Aber dem Zentrum fehlt das Wasser. In Budapest hingegen teilt die Donau die Stadt spektakulär und plakativ, Burg rechts oben, Parlament links unten. Diese selbstverständliche Schönheit wird nur vom Akkord der alten Brücken übertroffen, die in Prag die Moldau überspannen. Deren Wasser trennt die Altstadt Prags vom Klein-Ufer, über dem sich der Hradschin, diese monumentale Burg aufrichtet, aus dem Geschichtsunterricht bekannt durch den Prager Fenstersturz, mit dem 1618 der Dreißigjährige Krieg begann.
Ich betrachtete den Hradschin aufmerksam und entschloss mich, ihn den anderen Touristen zu überlassen. Stattdessen wollte ich nachsehen, was aus dem Café Savoy geworden war, das auf der Kleinseite viele Jahrzehnte lang den Rang einer Institution bekleidete. Ich hatte Gutes gehört.
Ich hatte Gutes gehört, aber was mir an der Vítězná 124 widerfuhr, war besser. Nicht nur, dass das Haus und das Café auf einfühlsame Weise renoviert worden waren, auch das Angebot war offenbar einer kritischen Prüfung unterzogen worden. Es gab, was es in ganz Wien in kaum einem einzigen Café gibt: exzellenten Kaffee. Dazu ein breites Assortiment von Kuchen und Torten, aber auch auch souverän zubereitete, kleine Speisen wie Eggs Benedict oder einen in jeder Hinsicht satisfaktionsfähigen French Toast. As ich eine kleine Erkundung durch die Nachbarräume antrat – der Kellner hatte mich gleich neben eine der großen Fensterscheiben in Eingangsnähe platziert –, sah ich, dass selbst für einen Abend, den man nicht allein mit Kaffee und guten Gedanken verbringen möchte, vorgesorgt war: ein großes Regal enthielt zahlreiche interessante Weinflaschen, deren Gesellschaft am Tisch man durchaus schätzen würde – ein weiteres plakatives Differenzierungsmerkmal zum Wiener Kaffeehaus.
Ich hatte mir den Roman „Nachts unter der steinernen Brücke“ von Leo Perutz mit nach Prag genommen. Ich liebe es, Bücher an Originalschauplätzen zu lesen, Rilke in Duino, Pamuk in Istanbul, Pessoa in Lissabon. Während ich meinen zweiten oder dritten Kaffee trank, blätterte ich in dem 1953 erschienen, aus einem Dutzend Erzählungen montierten Roman und ließ mich in die Welt des Kaiser Rudolf II. zurücktragen, der sich im 17. Jahrhundert in die schöne Jüdin Esther verliebt und damit tief in eine Mysterienspiel verwickelt wird, voll von historischen Schatten und schwelender Magie.
„Es war ein sonderbarer Zug, der sich durch die Gassen und über die Plätze des nächtlichen Prag bewegte“, schrieb Perutz zum Beispiel. „Es ging durch enge, winkelige Gassen bergauf und bergab, vorbei an adeligen Palästen und an schmalen, windschiefen Giebelhäusern, vorbei an Kirchen, Gartenmauern, Weinschenken und steinernen Brunnen. Die Leute, denen sie begegneten, fanden nichts Verwunderliches an diesem Zug, sie meinten, der Kavalier, der da hinter den Musikanten hertanzte, habe ein wenig über den Durst getrunken und sei in fröhlicher Laune, und einer seiner guten Freunde brächte ihn mit Musikanten und Lakaien in sein Quartier, und niemand ahnte, dass da einer verzweifelt um sein Leben tanzte.“
Als ich aufhörte zu lesen, war es draußen schon dunkel, ungefähr so dunkel wie in meinem Buch. Ich schaute auf die Uhr und sah, dass ich mich langsam um mein Abendessen kümmern musste, wenn ich heute noch etwas Vernünftiges bekommen wollte.
Also verließ ich das Savoy und marschierte in Richtung Innenstadt, zuerst durch das Barocklabyrinth hinter dem Kampa Park, dann über die Karlsbrücke, den Krönungsweg der böhmischen Könige, Weltkulturerbe, Touristenmagnet.
Ich hatte die Brücke gar nicht so klischeehaft schön in Erinnerung gehabt. Aber sie war es. Der fast volle Mond drängte durch die feuchten Wolken. Die Heiligenstatuen, die prunkvoll im Schatten postiert waren, bekamen, wenn ich sie aus dem richtigen Winkel betrachtete, eine dramatische Aureole. Es herrschte, kleines Wunder, gerade kein Gedränge auf der Brücke, die anderen Nachtschwärmer gaben ihren Frieden, und die Dixielandkombo beschloss ihr Programm gerade mit einer bemitleidenswerten Version des St. Louis Blues.
Ich hätte es eigentlich eilig haben sollen. Aber es sind bekanntlich nur die Augenblicke, die im Leben von Bedeutung sind. Diesen hier rahmte ich mir ein und nahm ihn mit nach Hause, für immer.
Ganz überwältigen ließ ich mich von diesen poetischen Anwandlungen trotzdem nicht. Ich tauchte also gelehrig in die Altstadt ein, ließ ein paar Baumkuchen-Stände hinter mir und fand mich nach kurzer Suche im Winkelwerk der Mittelaltergassen wieder vor dem Portal des vielleicht herrlichsten Wirtshauses der Stadt, „u Zlatého tygra“, dem „Haus zum Goldenen Tiger“.
Der Goldene Tiger ist eine Bierkneipe. Der große tschechische Humorist und Schriftsteller Bohumil Hrabal pflegte hier seinen Stammtisch, an dem in der Regel nur er selbst zugelassen war. Pünktlich um halb fünf betrat Hrabal das Haus, nahm am Tisch gegenüber dem Tresen Platz und packte die Schreibutensilien aus. Dann durfte das Bier serviert werden. Hrabal sinnierte, kicherte in sich hinein, schrieb Sätze in sein Notizbuch, leerte das eine, dann das zweite Bier. Ebenso pünktlich wie er gekommen war, packte er um halb sieben seine Sachen wieder zusammen und verließ das Haus. Wenn dann zum Beispiel ein amerikanischer Präsident in town war und den berühmten Hrabal kennenlernen wollte, kein Problem, er musste nur zwischen halb fünf und halb sieben beim Goldenen Tiger aufkreuzen. Seit damals hängt dieses Bild von Bill Clinton in der Gaststube. Als Hrabal 1997 starb, überschlug der Tigerwirt die Summe der Biere, die der Meister an seinem Tisch geleert hatte, und kam auf die eindrucksvolle Zahl von 32.600 Gläsern.
Ich schaffte nur vier. Eigentlich hätten auch drei gereicht, aber ich vergaß, den Kopf zu schütteln, als der Kellner mit der neuen Runde vorbeikam und das vierte Krügel vor mir absetzte. Im Tiger ist es, wie auch in Prags anderen Bierkneipen, Usus, das Bier nicht aktiv zu bestellen, sondern aktiv abzubestellen. Das heisst, solange du nicht laut und deutlich Nein sagst, lädt der Kellner regelmäßig neue Biere an deinem Tisch ab. Das hat natürlich die fatale Folge, dass du viel mehr Bier trinkst als anderswo. Es ist auch kein großes Opfer: das Bier im Tiger ist köstlich, von jener angenehmen Kellerkühle, die nichts mit den verbreiteten Gefrierschranktemperaturen zu tun hat, mit denen Bier überall sonst serviert wird, und versetzt mit einem Minimum an Kohlensäure, was den schnellen, langen Schluck befördert.
Dazu Fleisch. Von der Karte, die wahrscheinlich kein Vegetarier zusammengestellt hat, wählte ich Tartar, Pastrami und jede Menge Roastbeef. Das Tüpfchen auf dem i waren freilich die gebackenen Schinkenrollen, wie sie auch schon Helmut Kohl im Tiger gern zur Nachspeise nahm. Und natürlich das vierte Bier, über dem ich mit meinem Gegenüber am langen, voll besetzten Tisch ins Gespräch kam, dessen Vorzüge wir erwogen und über dessen potentielle Nachteile uns nichts bekannt wurde.
Entsprechend befeuert ging ich später zurück durch die Altstadt zu meinem Domizil, das ich im Hotel Paříž aufgeschlagen hatte, dieser gigantischen Art Nouveau-Hütte aus dem Jahr 1904, deren fünf Sterne durch die jahrzehntelange Pflege kommunistischer Hoteldirektoren ein bisschen Glanz verloren haben. Aber ich liebe leicht abgefuckte Luxusschuppen. Sie erzählen ein bisschen wehleidige Geschichten von früher, deren Schönheit wir erst erkennen, wenn irgendein Luxus-Konglomerat einen Marmor-und-Messing-Architekten damit beauftragt hat, alle Falten zu glätten und die interessantesten Charaktermerkmale auszuradieren.
Ich hatte weder Hunger noch Durst. Aber ich zog einen Stuhl zum Fenster meiner Suite und betrachtete die nächtliche Jugendstilfront des benachbarten Stadthauses, in dem ein schöner Konzertsaal untergebracht ist und im Keller eine Taverne – aber nein, nicht einmal dran denken…
Bohumil Hrabals epochaler Roman „Ich habe den englischen König bedient“ spielt zum Teil hier im Hotel Paříž. Sein Held arbeitet als Hilfskellner. Die ewige Lektion, die ihm sein erster Chef erteilt, lautet: „Du bist hier Pikkolo, merk dir das. Du hast nichts gesehen und nichts gehört.“ Von da an plaudert der junge Mann aber umso beherzter über die Drolligkeiten, wie sie sich selbst in den besten Häusern ereignen, wo selbst seine Majestät, die Englische Königin, absteigt.
Wie erstaunlich, dachte ich mir, die Füße am Fensterbrett, dass man dieselbe Königin noch heute fragen könnte, wie es ihr im Hotel Paříž eigentlich gefallen hat und ob sie an Hrabals Schilderungen etwas auszusetzen hat: „[Es] war so schön, dass es mich fast umwarf. Die vielen Spiegel, Messinggeländer, Messingklinken und Messingleuchten waren so blangewienert, dass man sich in einem goldenen Palast wähnte. Und überall rote Teppiche und Glastüren, ganz wie in einem Schloss.“
So wohnte ich in Prag.
Am nächsten Morgen besorgte ich mir in der Metzgerei Naše Maso einen Hot Dog zum Frühstück und machte einen Abstecher zum „Lokal“, das ein paar Ecken weiter an der Dlouhá 33 beste tschechische Küche verspricht, um fürs Abendessen zu reservieren. Das „Lokal“ ist eine Maschine, ein gewaltiger Schlauch mit sich ausbuchtenden Gewölben, wo mittags und abends mehrere hundert Menschen essen und trinken. Im durchsichtigen Tresen sind die riesigen Biertanks versenkt, die mit Standleitungen ständig neu aufgefüllt werden, und wer glaubt, dass es bei geschätzt 300 Sitzplätzen kein Problem ist, einfach hereinzuspazieren und sich irgendwo hinzusetzen, verkennt den Ernst der Lage: Prag hat einen solchen Nachholbedarf an Restaurants wie dem „Lokal“, wo die deftige, manchmal auch etwas plumpe und nicht gerade ansehnliche Küche des Landes auf einem vorzeigbaren Niveau zelebriert wird, dass Walk-Ins grundsätzlich wenig Chancen haben.
Ich ließ mich also für einen Tisch vormerken und studierte anschließend die Speisekarte, auf der Blutwurst oder Kuttelsuppe standen. Dazu nahm ich eine winzige Portion Prager Schinken mit Oberskren und einen „Schnitt“: ein Getränk, das halb aus Bier und halb aus Schaum besteht, Stammgäste dürfen es auch „Milch“ nennen.
Dann machte ich mich gestärkt auf den Weg zu den Orten, die ich sehen wollte. Zog über den atemberaubenden jüdischen Friedhof, ging den Wenzelsplatz auf und ab, betrauerte den Zustand des wunderschönen Grand Hotels Europa, seit langem Baustelle, setzte mich dann ins Kinoespresso des Palais Lucerna in den ersten Stock, trank eine Milch und betrachtete das Pferd des Bildhauers David Cerny, das vor meinen Augen lebensgroß, tot und kopfüber von der Decke hing. Später las ich, dass das Kunstwerk die Reiterstatue auf dem Wenzelsplatz karikieren soll und dass es sich bei Cerny um einen sogenannten Skandalkünstler handelt, aber das minderte die Wirkung nicht. Ich musste mich setzen und las ein paar Seiten Hrabal. Anschließend kam mir ein von der Decke hängendes Pferd eigentlich ziemlich normal vor.
Natürlich brauchte ich vor dem Abendessen noch einen Imbiss, den besorgte ich mir in der Weinbar Veltlin an der Křižíkova 488/115, gleich in der Nähe des Kaizel Parks, wo es zu zahllosen interessanten Weinen auch Schinken und Pasteten gibt. Dann marschierte ich eine halbe Stunde, vorbei an schönen Altwarenhändlern, Papiergeschäften, Regenschirmläden und ziemlich vielen Fachgeschäften für Absinth und DHC-freien Hanf vorbei zu meinem Ziel, dem „Lokal“.
Ich aß die Spezialität des Hauses, den gebackenen, reifen Käse mit Sauce Tartar, dann den Rindsbraten mit Paprikasauce und Knödeln und anschließend die Buchteln. Ich war froh, dass ich nicht Vegetarier bin, denn sonst hätte ich auf den Salat mit Hühnerbrust oder die frittierten Champignons mit Sauce Tartar zurückgreifen müssen, wobei – warum eigentlich nicht?
Wieviele Bier ich trank? Wer will das wissen? Ich musste schließlich ein paar ausprobieren, denn die Hrabal-Lektüre hatte mir zu denken gegeben. Im Buch streiten die Gäste erbittert, „welches Bier in Böhmen das beste wäre, und einer meinte: das Protiviner, und ein anderer: das Vodňaner Bier, und ein dritter: das Pilsner, und ein vierter: das Nymburker und das Krušovicer, und so schrieen sie aufeinander ein, doch sie alle mochten einander und schrieen nur, damit was los war, um irgendwie den Abend totzuschlagen…“
War ich satt? Ja. Wollte ich schlafen gehen? Das war nicht die Frage. Die Frage war, wo ich noch das richtige Getränk vor dem Schlafengehen bekommen würde.
Dafür musste ich ins Café Slavia. Zwar hat dieses berühmte „Bohemienlokal“, wie es Georg Danzer nennen würde, nach dem Interregnum diverser Kantinenbetreiber ein bisschen Glanz eingebüsst, aber noch immer gehört Victor Olivas Gemälde „Der Absinthtrinker“ untrennbar zum Café gegenüber dem Nationaltheater. Das Gemälde zeigt einen Herren, dem die grüne Fee des Absinths an seinem einsamen Tisch Gesellschaft leistet, und auch ich sehnte mich, diese Mahlzeit im Bauch, nach einer vergeistigten Gefährtin, auch wenn ich keine dauerhafte Bindung anstrebte.
Weil ich feig bin, folgte ich der Empfehlung des Kellners und nahm keinen puren Absinth, sondern das merkwürdige Getränk aus Absinth und Prosecco, das sie im Slavia „Seksint“ nennen.
Ich wollte keinen zweiten. Stattdessen ging ich auf verschlungenen Wegen Richtung Altstadtring, und weil ich zufällig vorbeikam, streckte ich den Kopf noch einmal in den Goldenen Tiger. Es war eigentlich schon Sperrstunde, aber eines haben wir immer noch getrunken, sagte der Kellner und klopfte mir anerkennend auf die Schulter, er erinnerte sich offensichtlich an gestern.
Also trank ich noch ein Bier. Das Lokal war fast schon leer. Ich tat etwas Verwegenes. Setzte mich an den Stammtisch, Blick auf den Tresen, direkt unter die Büste von Bohumil Hrabal, die im Gewölbebogen hinter mir an die Wand geschraubt war.
Ich trank das Bier aus, dann hörte ich laut und deutlich eine Stimme, die sich von einem imaginären Ort hinter mir vernehmen ließ: „Du bist hier nur Gast, merk dir das. Du hast nichts gesehen und nichts gehört.“
Das ist wahr. Sehr wahr. Ich habe nichts gesehen. Ich habe nichts gehört.