Seilers Gehen: Die Kontinentalplatten des neunten Bezirks
Ich gehe durch die Roßau, diesen zwischen die Alservorstadt, den Althan- und den Thurygrund eingeklemmten Stadtteil, und frage mich, was das Roß im Namen verloren hat. Antwort: Auf diesem heute dicht bebauten Land befanden sich dereinst die Weiden und Schwemmen für die Rösser, deren Aufgabe es war, die Donauschiffe flussaufwärts zu ziehen.
Die Donau ist auch verantwortlich für die eigenwillige Topografie des neunten Bezirks, dessen Teil die Roßau ist. Während sich am Rand des Donaukanals das ehemalige Schwemmland befindet, jene Ebene, wo die unregulierte Donau immer wieder neue Arme und Inseln ausbilden konnte, befindet sich im Westen der Roßau ein Ausläufer der sogenannten „Stadtterrasse“, der Rest einer eiszeitlichen Schotterablagerung. Diese Konstellation erklärt, dass sich im Neunten so viele Stiegenanlagen befinden. Sie müssen den (prä)historischen Höhenunterschied ausgleichen, und sie tun das, zum Teil jedenfalls, mit beträchtlicher Eleganz.
Als ich, von der Berggasse kommend, die Porzellangasse entlangspaziere und vor dem Palais Liechtenstein hinüber zur Strudlhofstiege blicke, bin ich – wie immer – fasziniert von deren machtvoller und gleichzeitig verspielter Architektur. Weil ich aber keine Lust habe, schon wieder den berühmten Roman des noch berühmteren Autors zu bemühen, erklimme ich die Stadtterrasse nicht auf der Jugendstilstiege, sondern wandere auf der Liechtensteinstraße stadteinwärts, bis ich zur Thurngasse komme, wo ich einbiege und am Ende der Gasse bereits die interessanten Schraffierungen sehe, mit denen die diagonal angelegten Handläufe der Thurnstiege die Gasse abschließen.
Nicht immer sah die Thurnstiege so verspielt und einladend aus. 1901 wurde die ursprüngliche Anlage aus zwei parallelen, steilen Stiegen, getrennt durch hübsch akzentuierte Handläufe, erbaut. Dass die Thurnstiege jetzt eine Kombination von Stiegen und Rampen ist, die von Sitzgelegenheiten, einem Brunnen und dekorativen Felsbrocken ergänzt wird, ist das Ergebnis einer erfolgreichen Bürgerinitiative, die einen barrierefreien Aufgang von der Wasagasse zur Währingerstraße wünschte und durchsetzte. 2004 wurde die nach einem Entwurf der Architektin Regina Pizzinini gestaltete neue Thurnstiege eröffnet.
Langsam gehe ich die Rampe hinauf. Auf den Bänken, die in die Zwischenebenen integriert sind, sitzen junge Menschen und rauchen süße Zigaretten. Ein Mountainbiker kommt mir entgegen, und die Straßenlampen, die inzwischen schon früh eingeschaltet werden müssen, leuchten wie kleine Monde aus dem zentral platzierten Baum heraus, der die Stiege überragt. In den Geländern spiegelt sich das Licht, es entsteht eine kleine, urbane Poesie zwischen den Fassaden der Wohnhäuser, die links und rechts der Stiege aufragen.
Als ich oben angekommen bin, kann ich die nahe Währingerstraße rauschen und stöhnen hören. Ich drehe um, gehe die Stiege wieder hinunter und folge der ruhigeren Wasagasse, die mich schonend stadteinwärts führt, den Ausläufern eiszeitlicher Schotterablagerungen entgegen.