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KulinarikGesellschaft

"Fleisch muss teurer werden!"

Interview mit dem Philosophen und Kulturwissenschaftler Thomas Macho

Herr Professor Macho, warum stellen wir uns neuerdings die Frage, ob es richtig ist, Tiere zu essen?

Aus mehreren Gründen. Der Fleischkonsum ist in den letzten Jahrzehnten dramatisch gestiegen. Gleichzeitig hat der steigende Fleischkonsum enorme Folgen in Bezug auf die Kilmakrise. Es gibt Zahlen, die nahelegen, dass die Massentierhaltung einen größeren Einfluss auf die Erderwärmung hat als der weltweite Transportverkehr – das hat schon Jonathan Safran Foer in seinem Buch „Eating Animals“ festgestellt. Hier müssen wir etwas ändern. Es geht um den Schutz von uns allen, die diesen Planeten in Zukunft gemeinsam bewohnen wollen. Das Problem wird immer dringlicher.

Wird die Diskussion breit genug geführt? Ist sie nicht einerseits den globalen Eliten und unter diesen Eliten wiederum den Eliten vorbehalten?

Die Diskussion wird im Moment immer breiter geführt, weil sie zum Beispiel in der jungen Generation angekommen ist. Das ist ein ganz wichtiger Aspekt. Die Fridays–For–Future-Generation hat eine ganz andere Art von Problembewusstsein als meine Generation. Ich werde in diesem Jahr siebzig. Ich bin in einer Familie aufgewachsen, wo es alles andere als selbstverständlich war, Fleisch zu essen. Fleisch war Luxus, den man sich maximal am Sonntag mal gegönnt hat und zu großen Festen – Ostern, Weihnachten. Aber nicht jeden Tag und schon gar nicht dreimal an jedem Tag.

Wann hat sich das verändert?

Der massive Anstieg des Fleischkonsums begann in den Siebziger- und Achtzigerjahren mit dem Fast Food. Und dann passierte etwas, was ich für ganz entscheidend halte: Die völlige Separierung von zwei Welten. Die eine ist die Welt der Massentierhaltung und der Nahrungsmittelproduktion. Sie findet in einem unsichtbaren Feld statt. Schlachthöfe, die früher in den Städten waren, liegen inzwischen irgendwo am Land, versteckt, kaum sichtbar. Trevor Paglen, ein zeitgenössischer aktivistischer Künstler, hat Drohnen eingesetzt, um etwa im Brandenburgischen die riesigen Anlagen der Massentierhaltung fotografieren zu können.

Wir sollen nicht mehr sehen können, was den Tieren widerfährt.

M: Und wir sollen die Tiere nicht erkennen. Das ist die zweite Welt. Was auf den Tisch kommt, sieht überhaupt nicht nach Tier aus. Es kommt in kleinen Teilen, in schönen Formen, die wir als Schnitzel oder Wurst kennen. Selbst die Brathühner, die sich in meiner Kindheit noch auf Bratspießen gedreht haben, auf denen sie immerhin noch als Hühner erkennbar waren, werden in Chicken Nuggets versteckt – kleine, panierte Teilchen, denen man nicht mehr ansieht, was sie enthalten. Genauso wie Fischstäbchen. Diese Liste könnte ich ewig lang verlängern. Nicht nur das Schlachtvieh ist unsichtbar geworden. Auch unsere Mahlzeiten geben keinen Aufschluss über ihre Herkunft.

Sehen Sie darin den Grund für steigenden Fleischkonsum?

Ja, ich empfinde diese Dualität als sehr bedrohlich.

Wann ist Fleisch zu einem unverzichtbaren Teil unserer kulinarischen Gegenwart geworden?

Ich würde sagen, in den letzten 50 Jahren. Da steigen die Kurven fast schon exponentiell an. Laut den Befunden und Statistiken, die der Fleischatlas der Heinrich-Böll-Stiftung publiziert, liegt der Fleischkonsum in Europa knapp unter 70 Kilo pro Jahr und pro Kopf. Da sind aber auch Kinder mitgerechnet, Veganer und Vegetarier, die gar kein Fleisch essen und mit Recht fragen: „Wer isst eigentlich meinen Teil?“ Das heißt, der Verbrauch unter den Fleischessern ist noch viel höher. Weltweit steuern wir auf die 360 Millionen Tonnen zu, die für 2029, wenn sich nichts ändert, prognostiziert sind. Die Klimaeffekte sind katastrophal. Das Tierleid in den Massentierhaltungsanlagen ist katastrophal. Und eine wirkliche Auseinandersetzung darüber kann nicht geführt werden, weil sich diese Industrie weitgehend unsichtbar macht.

Die industrielle Tötung von Tieren ist ja nichts Neues. Das Buch „Der Dschungel“ von Upton Sinclair, eine schockierende Schilderung der Praktiken in der Fleischindustrie, ist 1905 erschienen. Wenn man die Schilderungen der modernen Fleischindustrie verfolgt, die im Kontext der Pandemie ans Tageslicht kamen, hat sich eigentlich nicht viel verändert, oder?

M: Lediglich die Automatisierung, die extrem steigende Zahl der geschlachteten Tiere. Die „Chicago Stock Yards“, die Sinclair beschrieb, waren schon gewaltige Maschinen. Aber jetzt werden noch viel mehr Tiere geschlachtet, und man braucht dafür weniger Arbeiter. Massentierhaltungsanlagen, wo 200.000 Tiere gehalten werden, können mit 50 bis 100 Menschen betrieben werden, die im übrigen meistens auch noch schlecht bezahlt werden. Diese Leiharbeiter und Leiharbeiterinnen werden zwar nicht im Kastenstand gehalten, aber ihre Unterkünfte sind auch nicht gerade komfortabel und groß. Die Branche selbst ist umso profitabler geworden. All das nehmen wir zu wenig wahr.

Warum ist das frühere Luxusgut Fleisch zur selbstverständlichen, täglichen Nahrungsquelle geworden?

Vieles, was vor 50 Jahren noch eine Erfahrung von Luxus und deshalb selten war, ist Alltag geworden. Mit dem steigenden Stellenwert des Konsums haben wir plötzlich das Gefühl, ein Anrecht darauf zu besitzen, jeden Tag in der Früh Schinken und Eier zu essen. Und zu Mittag die erste richtige Fleischmahlzeit. Und am Abend natürlich sowieso. Dass das nicht gesund ist, wissen wir seit sehr vielen Jahren. Aber es passiert noch nichts.

Es ist offensichtlich, dass billiges Fleisch Rückschlüsse darauf zulässt, wie es produziert wurde: zu Lasten des Tierwohls, des Mitarbeiterwohls und des Klimas. Eigentlich können wir, sobald wir nur eine Sekunde über das Thema nachdenken, jedes auffällig billige Stück Fleisch als mehrfach toxisch identifizieren und von der Einkaufsliste streichen.

Ganz genau. Das ist auch mein Standpunkt. Und ich habe auch das Gefühl, dass dieser Standpunkt den Jungen durchaus einleuchtet.

Ist die Gesellschaft reif, das Thema selbst zu regeln? Oder braucht sie Unterstützung vom Gesetzgeber?

Das würde ich nicht ausschließen. Denken Sie nur ans Rauchen. Irgendwann war der Konsens hergestellt, dass Rauchen sowohl gesundheitsschädlich als auch ökologisch unvernünftig ist. Und dass man etwas unternehmen muss. Statt radikaler Prohibition hat man es zunächst mit Warnhinweisen versucht, mit diesen schrecklichen Fotos auf den Zigarettenpackungen. Der viel entscheidendere Vorgang war aber, dass die Tabakindustrie selbst begonnen hat, Alternativen zu entwickeln. Die zweite Strategie war übrigens, das Rauchen empfindlich teurer zu machen. Heute zahle ich in Deutschland, wenn ich mir eine Packung Zigaretten kaufe, sieben Euro zwanzig. Das kann ich mir manchmal gönnen. Aber die Selbstverständlichkeit, mit der noch mein Vater zwei bis drei Packungen Zigaretten pro Tag geraucht hat, ist vorbei.

Was müsste also passieren, dass das Fleisch einen anderen Wert bekommt?

Wir müssen alle Versuche und Unternehmungen fördern, die eine Erzeugung von Fleisch aus „artgerechter Haltung“ garantiert. Wo Tierwohl ebenso wie Menschenwohl – so streng lässt sich das meistens nämlich gar nicht trennen – auf der Werteskala ganz oben steht und nachvollziehbare Bedeutung hat. Das kostet dann eben mehr, das ist klar. Das ist die eine Strategie.

Würde das am Prinzip der Massentierhaltung etwas ändern?

Allein vermutlich nicht. Ein nächster Schritt müsste dringend auf konkrete Methoden der Massentierhaltung zielen. Der Kastenstand bei Schweinen zum Beispiel ist katastrophal und sollte dringend verboten werden. Auch mit Blick auf Pandemien, mit Blick auf Zoonosen, mit Blick auf antibiotikaresistente Keime ist es zutiefst unvernünftig, Tiere so eng zusammenzuquetschen. Sie beissen einander die Schwänze ab und landen psychisch in einer extremen Form von Verwahrlosung, die es in der konventionellen Tierhaltung nie gegeben hat. Da kann der Gesetzgeber einschreiten und Verbote aussprechen. Das muss vielleicht schrittweise erfolgen. Aber es muss erfolgen.

Halten Sie innovative Fleischalternativen für praktikable Alternativen zum Fleisch?

M: Im Moment wird dazu viel geforscht, und ich finde die Ergebnisse durchaus interessant. Beim Käse ist die Entwicklung schon ziemlich weit. Der Biofermenta-Käse, der keine Kühe an Melkmaschienen mehr braucht, ist schon recht gut geworden. Das ist ein riesiges Feld für junge Start-up Unternehmen, die relativ leicht Geld einwerben können und Investitionen bekommen, um in diesem Segment zu forschen, zu experimentieren und zu schauen, wie man die Qualität verbessern und dann preiswert produzieren kann. Man nimmt an, dass Fleischersatzstoffe in den nächsten fünf bis zehn Jahren um zwanzig bis dreißig Prozent zunehmen werden und damit tatsächlich tierische Angebote ersetzen können.

Womit wir wieder bei den Eliten wären, denn dieses Segment spielt in ärmeren Ländern überhaupt keine Rolle. Dort passiert eher, was bei uns vor fünfzig Jahren passiert ist: der Fleischkonsum steigt stark an.

Das ist tatsächlich die größere Frage. In den reichen Staaten beträgt der Fleischkonsum etwa 65 bis 70 Kilo pro Jahr. In den ärmeren Staaten liegt diese Zahl etwa bei 26 Kilo. Das Problem ist nur, dass die sehr viel bevölkerungsreicher sind. Der Gesamtverbrauch ist also auch wieder ziemlich hoch und relevant.

Es wird allerdings auch anderes Fleisch verzehrt als bei uns.

Ja, Fleischalternativen müssen natürlich auch kulturelle Elemente aufnehmen. In China zum Beispiel gibt es wenig Tabus: Die Chinesen essen sehr gerne Tiere. Das Essen von Insekten ist ebenso üblich wie das Essen von Hunden. Folgendes Gedankenexperiment: Viele Hunde, die in keinem Tierheim mehr Platz finden, werden von Menschen irgendwo ausgesetzt, verwildern, sterben und müssen in Krematorien überführt werden. Jonathan Safran Foer hat in seinem Buch daran erinnert, dass es früher überall Pferdemetzger gab. Warum soll es also nicht auch einen Hundemetzger geben, bevor die Tiere massenweise verbrannt werden, weil sich niemand mehr um sie kümmert und die Tierheime eh schon überfüllt sind? Das wäre eine Strategie, mit der man zwei Bedürfnisse zusammenführt und durchaus etwas erreichen könnte.

Sie hören jetzt natürlich den Aufschrei der Haustierliebhaber.

Natürlich. Aber hier wird die offensichtliche Trennung doch philosophisch interessant. Auf der einen Seite der Bereich, in dem wir Tiere lieben, betrauern, uns mit ihnen identifizieren, Dokumentationen anschauen, unsere Kinder mit Kuscheltieren überhäufen.

Und auf der anderen Seite….

….dieser völlig unsichtbar gemachte Bereich, in dem wir Tiere essen, zu uns nehmen, uns aber eben nicht mehr mit ihnen identifizieren, uns nicht mehr in sie verwandeln, was ja mal ein Ziel von alten Jägerkulturen war. Im alten Indien hat man dem Tier, das man getötet hat, quasi versprochen, ihm in einer anderen Welt einmal selbst als Nahrung zu dienen – was als Idee gar nicht so falsch ist, wenn man es genau nimmt. Auch wenn es nicht Raubtiere, sondern Würmer sind, die unseren toten Körper verzehren. Jedenfalls ist man in diesen Kreislauf selbst integriert. Da gibt es noch viel Bewusstseinsarbeit zu leisten.

Früher war es eine bäuerliche Selbstverständlichkeit, dass man Leben und Sterben des Tieres aus nächster Nähe verfolgt hat.

Heute gibt es Initiativen, die bewusst provokante Titel tragen wie „Schlachten mit Kindern“ oder „Lebensmittel Lebewesen“. Sie vermitteln Schulkindern, wie Tiere auf die Welt kommen. Die Kindern können ihnen einen Namen geben, sie aufwachsen sehen, beobachten und füttern, besuchen sie einmal in der Woche oder so. Und irgendwann wird dieses Tier dann auch getötet und gegessen. Man macht den Lebenszyklus transparent. Früher eine Selbstverständlichkeit, heute verschwunden. Die Höfe, wo diese Praktiken noch praktiziert werden, kann man bald an einer Hand abzählen. Die Industrialisierung – die tragischerweise noch dazu aus öffentlichen Mitteln gefördert wird – hat diese Strukturen total zerstört und vernichtet.

Gleichzeitig forschen und wissen wir immer mehr über die erstaunlichen, kognitiven Fähigkeiten von Tieren, auch über ihre Emotionen und Gefühlswelten von Tieren. Es gibt dazu faszinierende Untersuchungen und Bücher, die zu Bestsellern werden. Gleichzeitig behandeln wir dieselben Tiere mit einer so unvorstellbaren Brutalität? Wie passt das zusammen?

Es passt eben nicht zusammen. Das ist ein Widerspruch, der nur funktioniert, weil wir ihn uns nicht bewusst machen. Wir verleugnen unser Wissen, verdrängen es, nehmen es nicht wahr. Ich möchte wirklich wissen, was los ist, wenn im Fernsehen eine Dokumentation läuft, die nicht das wunderbare Leben der Wildtiere in der Serengeti zeigt, sondern die Zustände in Massenschlachtungs- und Tierhaltungsanlagen. Ich bin überzeugt, dass 85 Prozent der Zuschauer nach wenigen Minuten auf den nächsten Kanal schalten, weil sie nicht aushalten, was sie sehen.

Was also tun?

Transparenz schaffen. Es gibt sicher auch Kinder, die das Hühnchen, das sie schon als Küken kannten und dem sie vorher einen Namen gegeben haben, mit Genuss essen können. Aber sie machen eine andere Erfahrung als mit Chicken Nuggets. Sie sind nicht nur mit einem Tier in Berührung gekommen, sondern auch mit dem Lebenslauf eines Tiers. Das ist dann in ihnen und das macht auch etwas mit ihnen. Plötzlich werden andere Erfahrungsräume geöffnet. Das halte ich für sinnvoll. Es wird vielleicht auch Kinder geben, die unter diesen Umständen kein Hühnchen mehr essen wollen. Na, dann ist es auch gut. Man darf nicht vergessen, ihnen zu sagen: „Du weißt aber schon, dass auch die Teile, die du bei McDonalds als Chicken Nuggets kaufst, von diesen Tieren stammt!“

Um unsere Haustiere kümmern wir uns hingegen mit Inbrunst, halten Diabetikerkatzen am Leben, verabreichen Herzmedikamente, Bluttransfusionen oder Organtransplantation. Das sprengt teilweise jede Vernunft.

Diese Tiere werden wie Familienmitglieder behandelt und genießen einen hohen Rang, einen hohen Status in unserem Leben. Vor allem in Asien gibt es Firmen, die sich darauf spezialisiert haben, verstorbene Haustiere zu klonen – für horrende Beträge, ich glaube, das kostet 50.000 Dollar. Das große Problem ist, dass die Besitzer dann regelmäßig enttäuscht sind, weil das geklonte Tier natürlich nicht weiß, wie es heißt und wer sein Herrchen oder Frauchen ist. Oft schauen sie dem Vorgänger nicht mal sehr ähnlich, weil sich die Idee der identischen Kopie auch durch Klonen nicht realisieren lässt.

Die Liebe schlägt dann schnell einmal ins Gegenteil um.

Die Heimtierhaltung, die wir praktizieren, mündet regelmäßig in bestimmte Formen von Rücksichtslosigkeit – etwa, wenn man umzieht oder wenn sich die Lebensverhältnisse ändern. Die Folge sind unzählige ausgesetzte Hunde, aber auch andere Tiere, die man auf Dauer eigentlich gar nicht in einer Wohnung halten kann – bestimmte Vogelarten oder Reptilien zum Beispiel.

Sind Sie gegen Heimtiere?

Nein. Aber ich plädiere dafür, dass man sich das Leben mit Tieren in allen Facetten überlegt. Dass man nicht überquillt vor Projektionen und Fantasien und das Tier bei der nächsten Gelegenheit, wenn es plötzlich nicht mehr zum eigenen Leben passt, einem unwürdigen Schicksal überlässt.

Eines der Kapitel in Ihrem Buch beginnt mit der schönen Frage „Warum essen wir Tiere?“. Sie beantworten sie lakonisch so: „Weil wir Tiere sind“.

Dieses Bewusstsein hatten frühere Kulturen selbstverständlich. Über viele hunderttausend Jahre, mindestens aber bis zur Nutzbarmachung des Feuers, machten Menschen die Erfahrung, dass sie, wenn sie Glück haben, andere Tiere essen können – aber auch von ihnen gegessen werden können. Das ist wohl auch nicht so selten passiert. In dieser Erfahrungswelt ist man ein Tier, das sich in der komplexen Form der gegenseitigen Begegnung in Form des Jagens und Tötens irgendwie durchsetzen muss. Oft genug ist das auch nicht gelungen. Deshalb waren Menschen über längste Zeit eher Aasfresser als erfolgreiche Jäger, weil sie einfach am Rand der Savanne gewartet haben, bis die Raubtiere mit der Mahlzeit fertig waren.

Wie eine Hyäne oder Krähe.

Genau. Wobei die auch auf das Aas gewartet haben. Aber es war halt leichter, sich mit Krähen oder Hyänen auseinanderzusetzen als mit Löwen oder mächtigen Rudeln von Raubtieren. Deshalb hat man die Raubtiere auch bewundert und sich mit ihnen identifiziert.

Bekamen unsere frühesten Götter deshalb die Gestalt von Raubtieren?

Sehr wahrscheinlich. Es gibt viele wunderbare Verwandlungsgeschichten von Göttern – sei es im alten Indien oder im alten Griechenland. Sie verwandeln sich natürlich dauernd in Tiere, weil diese Tiere für uns eine attraktive Alternative zu unseren Körpern darstellen. Im Karneval hat man sich auch immer wieder als Tier verkleidet. Kinder tun das noch heute gern, wenn sie nicht gerade in das Kostüm des Übermenschen, von Superman und Konsorten schlüpfen.

In ihrem Buch schlagen Sie vor, diesen Gedanken konsequent fortzusetzen und zum Beispiel zu essen, was das Tier, das man gerade sein möchte, frisst.

Dieses Experiment hat Charles Foster gemacht, ein englischer Tierarzt, der ausprobieren wollte, wie sich das anfühlt. Wie lebt man als Dachs? Wie lebt man als Maus? Ein wunderbares Buch.

Er spricht zum Beispiel in aller Kennerschaft über das Terroir der Regenwürmer.

Da ist er gerade dabei, sich in einen Dachs zu verwandeln. Und Dachse essen tatsächlich viele Regenwürmer. Und plötzlich beginnt ihm der Regenwurm nicht nur zu schmecken, sondern er kann wie ein Weinkenner das Terroir der Regenwürmer erkennen und die Gegend, woher der Wurm stammt, daran festmachen. Wunderbar.

Wann in der Entwicklungsgeschichte können wir den Punkt festmachen, an dem wir vom mehrheitlich Gejagten zu mehrheitlich Jagenden wurden?

Da nähern wir uns definitorisch der Diskussion, die sich um den Beginn des Anthropozäns dreht. Das beginnt vermutlich mit der Beherrschung und Nutzung des Feuers vor etwa 300.000 bis 400.000 Jahren. Das ändert die Herrschaftsverhältnisse, weil wir mit dem Feuer plötzlich auch in der Lage sind, Raubtieren anders zu begegnen. Noch wichtiger aber ist, dass man mit Feuer Fleisch genießbarer machen kann.

Und damit nicht mehr vom Aas abhängig zu sein.

Aasfresser klingt ja noch unschuldig. Es bedeutet aber in der Realität, dass man erstens meistens rohes Fleisch isst, das zweitens schon leicht fermentiert, mit dem gewissen Gout. Geschmeckt hat das bestimmt nicht so toll. Mit dem Feuer konnte man aber auch Braten und Kochen lernen. Das war ein wichtiger Schritt.

Außerdem trug das Hüten des Feuers zur Sesshaftigkeit bei.

Ganz sesshaft sind die Menschen bekannterweise nie geworden, aber etwas sesshafter. Da konnten sie dann Viehzucht und Ackerbau betreiben und erprobten viele Formen des Zusammenlebens mit Tieren. Der Begriff der Domestikation hat ja nichts mit Zähmung zu tun, sondern eher damit, dass man mit Tieren einen Haushalt oder ein Territorium zu teilen beginnt. Mit klaren Regeln, der Mensch als Herr und das Tier als Sklave. Es entstanden viele Formen älteren Agrarlebens, in denen die Bauern mit den Tieren regelrecht zusammengelebt haben.

Und in den Städten?

Sie werden lachen, auch in den Städten. Nicht alle Arten von Tieren, aber zum Beispiel Schweine, das habe ich genauer untersucht. 1419 gab es in Ulm – damals hatte Ulm knapp 10.000 Einwohner – ein Gesetz, mit dem festgelegt wurde, wie viele Schweine ein Bürger maximal haben darf: 24. Wenn aber 24 die Zahl der maximal zulässigen Tiere ist, muss es viele Menschen gegeben haben, die vorher mehr Schweine hielten. Das war recht praktisch. Diese Schweine konnten in der Stadt herumlaufen und waren sozusagen eine agrarische Form der Müllabfuhr, weil man Essensabfälle und anderes leicht an sie verfüttern konnte. Gleichzeitig waren die Tiere eine Notreserve für den Fall von Kriegen, Stadtbelagerungen, Ernteausfällen, usw. Wenn Hungersnöte drohten, hatte man noch eine gewisse Lebendfleischreserve, die man notfalls in Anspruch nehmen konnte.

Das Konzept des Menschen als Tier ist eine evolutionäre Selbstverständlichkeit: Wie steht es heute im sich verändernden Kontext unseres Selbstbildes und unserer Kulturen da?

Es bekommt aus verschiedenen Richtungen Aufwind. In der französischen Theorieentwicklung hat Bruno Latour schon vor Jahrzehnten vorgeschlagen, die Natur-Kultur-Differenz endlich zu kassieren und einen anderen Typus von Modernität zu entwickeln, und der sich nicht auf diese Distinktionen und die damit verbundenen Herrschaftsbeziehungen zurückführen lässt. Das ist sozusagen die eine Richtung. Die andere ist relativ schlicht, aber noch etwas naturwissenschaftlicher: Die Kognitionsbiologie, die unentwegt neue Entdeckungen macht.

Zum Beispiel?

M: Das Buch „Das rationale Tier“ von Ludwig Huber, dem Leiter des Messerli Forschungsinstitut an der Veterinärmedizinischen Universität in Wien. Der Titel ist natürlich selbst schon ein halber Witz, weil der Begriff des „animal rationale“ bisher immer auf den Menschen bezogen wurde. Der Mensch ist ein Tier, aber er ist das rationale Tier. Er ist das sprachfähige Tier. Er ist das kooperationsfähige und Staaten bildende Tier. Inzwischen wissen wir, dass all diese Bestimmungen sehr leicht relativierbar sind: Vom werkzeugbauenden Tier. Vom zeithabenden Tier.

Aber Huber schreibt eben nicht über den Menschen?

Nein, das ganze Buch handelt ausschließlich von Tieren und deren Rationalität. Es geht nicht mehr um die Beschreibung des Menschen als überlegenes Lebewesen, sondern um die Beschreibung von Tieren. Zum Beispiel von ihren Sprachen. Es war natürlich ein Irrweg, Tieren beibringen zu wollen, dass sie so ähnlich sprechen wie wir. Wir mussten lernen einzusehen, dass Kommunizieren nicht heißt, dass andere Lebewesen unsere Sprache sprechen. Aber wir haben erforscht, dass es ungeheuer komplexe Sprachen gibt, die wir noch kaum verstehen. Von den Walfischen bis hin zu vielen Vogelarten, aber auch bis hin zu Schweinen oder Hunden. Plötzlich stellt man fest, dass diese Arten Sprachen haben und dass wir uns mindestens so anstrengen müssen wie bei den fiktiven Aliens, damit sie uns verstehen und wir sie. Und plötzlich ist diese alte, schon von Aristoteles getroffene Differenzbildung zwischen Mensch und Tier gefallen.

Die Differenz, die durch die Vernunft definiert wird, die der Mensch angeblich besitzt und das Tier nicht.

Genau. Oder das Thema der Zeit. Es ist eine meiner Lieblingsgeschichten, dass Tiere angeblich kein Zeitgefühl haben. Schon bei Nietzsche ist das Tier „an den Pflock des Augenblicks gebunden“. Komischerweise gibt es immer wieder Beobachtungen, die daran zweifeln lassen.

Zum Beispiel?

Bei Experimenten, die im Zusammenhang mit der Corvidaenforschung, der Erforschung der Raben, unternommen wurden, untersuchte der Zoologe und Evolutionsbiologe Josef Reichholf Folgendes: Raben, die eine große Voliere gewohnt waren, deponierten alles, was sie zwischendurch gesammelt haben, in gut versteckten Nahrungsinseln. Dann hat man diese Voliere für eine bestimmte Zeit geschlossen und geschaut, wie sich die Tiere verhalten, wenn sie wieder geöffnet wird. Natürlich fliegen sie alle ihre Lieblingsplätze an, wo Nahrung versteckt ist. Sobald man die Voliere aber 14 Tage lang schließt, fliegen sie nur mehr die Nahrungsplätze ab, wo unverderbliches Zeug liegt – also Eicheln, Nüsse oder Ähnliches. Orte, wo sie Engerlinge und Regenwürmer verbuddelt hatten, waren uninteressant. Als wüssten die Tiere, dass ihre verderbliche Beute nach 14 Tagen kaputt ist und sie sie gar nicht mehr nachschauen müssen. Das war ein verblüffendes Forschungsergebnis.

Es könnte ein Beweis für Praxistauglichkeit sein. Aber für Zeitgefühl?

Es gibt da irgendeine Art von Zeitverhältnis, auch wenn es vielleicht nicht das husserlsche „innere Zeitbewusstsein“ ist. Aber es gibt ein Verhältnis der Tiere zur Zeitlichkeit. Und wir stehen in seiner Erforschung noch sehr am Anfang. Immer wieder sind wir sehr verblüfft, dass all das, was wir früher über Tiere gedacht haben, nicht stimmt.

Auf der anderen Seite haben wir einflussreiche Gemeinschaften, die den Kreationismus wieder in unsere Gegenwart zurücktragen wollen. Mensch und Tier sind von Gott geschaffen und basta.

Ja, das ist natürlich ein Versuch, um den Rahmenbedingungen, die durch Evolutionismus und Evolutionstheorie gesetzt werden, noch einmal zu entkommen. Man nimmt für sich selbst eine Gottähnlichkeit in Anspruch – „er schuf den Menschen nach seinem Bilde“ – und verdrängt all das, was übrigens in den alten, biblischen Büchern auch schon drinsteht. Zum Beispiel, dass Gott, der Herr, auf die Erde schaut und unzufrieden damit ist, was die Menschen aus seiner Schöpfung gemacht haben. Dann schickt er kurzerhand die Sintflut – nach dem Motto: Das Experiment ist gescheitert und muss noch einmal von vorne begonnen werden. Natürlich ist dieser Kreationismus eine Wahnsinnsideologie, die allerdings von den legalen Kirchen und ihren Umgebungen heftig gefördert und unterstützt wird. Man fragt sich, wie das eigentlich möglich ist, aber es passiert.

Es hängt wohl mit unserem Platz in der göttlichen Hierarchie zusammen.

Um das geht es da, ganz genau.

Von Martin Luther gibt es dazu den schönen Text: „Denn es gehet dem Menschen wie dem Vieh. Wie dies stirbt, so stirbt er auch, und haben alle einerlei Odem.“ Diesen Text hat ja Brahms in den „Ernsten Gesängen“ vertont.

Eine wunderschöne Formulierung. Zum Glück wird auch diese Erfahrung im Moment wieder verstärkt gemacht und prägt das Bewusstsein dafür, dass wir nicht nur mit anderen Kulturen und anderen Menschen, sondern auch mit anderen Lebewesen verschiedene Eigenschaften teilen. Zu denen gehört nicht nur die Verletzlichkeit, nicht nur die Sterblichkeit, nicht nur die Lebensfreude. Sondern plötzlich entdeckt man auch die Angewiesenheit auf das Habitat dieses Planeten, das im Moment durch die Entwicklungen dramatisch gefährdet wird.

Bei Lehrveranstaltungen zeigen Sie manchmal einen Film, der die industrielle Tötung von Tieren zeigt.

Das war ein Film von Georges Franju, einem bekannten französischen Filmemacher, der gemeinsam mit Henri Langlois die „Cinemathique francaise“ gegründet hat. Franju hat 1949 den zwanzigminütigen Dokumentarfilm namens „Le Sang des Bêtes“ in La Villette gedreht, das war der Schlachthof von Paris. Da wurden Tiere schon industriell getötet, aber der Ort lag gleichzeitig noch im Zentrum der Stadt, er war noch sichtbar. Im Film sieht man klassische Arbeitergestalten, starke, aber auch sympathisch wirkende Männer, die dort arbeiten. Man sieht, wie Schafe, Rinder und Pferde getötet werden. Schafe werden zum Beispiel reihenweise an lange Planken gebunden und damit zum Kehlschnitt vorbereitet. Der Schlachter geht dann vorbei und schneidet jedem Schaf die Kehle durch.

Wie reagieren die Studierenden?

Spätestens in diesem Moment verlassen sogar die, die das alles wissen, den Saal, weil sie den Anblick schwer erträglich finden.

Was interessierte Franju an den Vorgängen?

Er war damals noch nicht großartig inspiriert vom Tierschutz. Er wollte eigentlich zeigen, dass die ganze Ästhetik des Surrealismus – wenn man zum Beispiel an Dalis Pferdeköpfe denkt – im Zusammenhang mit diesen Erfahrungen der industriellen Schlachtung und des Umgangs mit Tieren in der Moderne steht. Darin bestand das Interesse von Franju. Nicht die Idee, Leute zu erschrecken. Eher der Versuch, eine Wirklichkeit zu zeigen, die in diesen Formen der Kunst auch repräsentiert wird.

Einer Wirklichkeit, die von der weiterentwickelten Schlachtindustrie um Dimensionen übertroffen wird.

Natürlich. Ich hatte beim Zeigen des Films das Gefühl, eigentlich ist das noch eine harmlose Darstellung im Vergleich dazu, was wirklich passiert. Und ich wüsste gern, was passieren würde, wenn die Leute den Roman „Wie die Schweine“ von Augustina Bazterrica, einer argentinischen Autorin, lesen müssten. In diesem Roman, der 2019, also ein Jahr vor Beginn der Pandemie geschrieben wurde, erzählt sie darüber, dass alle Tiere durch Zoonosen tödliche Keime in sich tragen, so dass der Genuss ihres Fleisches für die Menschen lebensgefährlich ist. Es gibt also keine konventionelle Fleischwirtschaft mehr, stattdessen gehen Menschen dazu über, Menschen zu essen. Es gibt eine radikale Separierung zwischen Menschen, die Fleisch von anderen Menschen essen, und Menschen, deren Fleisch gegessen wird. In Folge werden nur recht realistisch die aktuellen Praktiken in der Massentierhaltung und Fleischindustrie geschildert – nur, dass es eben um Menschen geht. Ich muss selbst sagen, dass einem zwischendurch richtig übel wird.

Warum ist das Töten von Tieren in der Fleischindustrie unsichtbar und wird andererseits in der Jagd so zelebriert?

In der Fleischindustrie ist es aufgrund der Massenhaftigkeit unsichtbar. In der Jagd wird es zelebriert, weil es eine Auseinandersetzung mit dem Tier fingiert, die für Menschen einmal lebensgefährlich war. Reste von altem Schuldbewusstsein spielen eine Rolle, manche Jägervereinigungen zelebrieren Versöhnungsgesten mit dem Tier, indem sie dem getöteten Tier einen grünen Zweig ins Maul schieben. In der Fleischindustrie gibt es das alles nicht. Wir nehmen am Tötungsvorgang auch nicht teil. Bei der Jagd entsteht ein Bewusstsein, das ganz, ganz wichtig ist: Ich töte ein anderes Lebewesen. Dann esse ich es und nehme es in mich auf. Es lebt unter Anführungszeichen in mir weiter – und mir selbst wird es auch mal so gehen. Das ist schon eine Erfahrung von Lebenszyklen, die relativierend und gleichzeitig sehr positiv sein kann.

Sie erzählen von Entschuldigungspraktiken, die zu Ritualen wurden. Man erschlägt das Tier und entschuldigt sich gleichzeitig dafür – indem man die tötende Axt in den Fluss schmeißt.

Die Stieropfer im alten Griechenland waren genau von diesem Impuls geprägt. Zuerst wollte man, dass das Tier seiner Tötung zustimmt – das erreichte man, indem man den Stier mit Wasser bespritzte, bis er den Kopf schüttelte. Dann warf man die Axt, die ihn getötet hatte, ins Wasser.

Man sich wegen des Tötens schuldig gefühlt.

Man war sich des Problems bewusst. Man hat Tiere eher selten gegessen, weil man sie für andere Zwecke dringender gebraucht hat. Stiere waren im Übrigen nicht zufällig Kandidaten dafür: Man konnte sie wegen der Hörner, die an den Mond erinnern, einerseits der großen Mutter zuordnen. Und andererseits brauchte man nicht viele Stiere, im Unterschied zu den vielen Kühen, deren Milch man verwertete. Auch deshalb durften vorzugsweise Stiere geopfert werden. Aber natürlich nicht jeden Tag, sondern nur bei Festen und Gelagen. Und immer folgte darauf ein Stück solidarischer Handlung: die Gemeinschaft verzehrte den Stier gemeinsam.

Warum ist es in Westeuropa ein größeres Tabu, über Fleischverzicht zu sprechen als über das industrielle Töten?

Ich glaube, der Fleischverzicht wird in vielerlei Hinsicht mit esoterischen und ideologischen Festlegungen assoziiert, die in der Regel heute gar keine Rolle mehr spielen. Die jungen Leute, die kein Fleisch mehr essen wollen, entscheiden sich aus guten Gründen dafür und ziehen nicht auf den nächsten Monte Verità, um dort in weißen Gewändern herumzulaufen.

Vegane Ernährung wird aber zeitweise auch sehr ideologisch argumentiert.

In den radikalen Formen des Veganismus entdecken wir manchmal bestimmte Formen des pauschalen Protests gegen die Welt, wie wir sie vorfinden. Man will dann mit dem anderem, dem Fremden gar nicht mehr in Berührung kommen. Eine Übersteigerung von hygienischen Impulsen: Ich bleibe sauber. Ich bleibe rein. Ich bin schon jetzt der Engel, zu dem ich sonst nur im Paradies werden kann.

Umgekehrt wird dann jedes Stück Wurst, das ich trotzdem essen, zu einem schuldbehafteten Genuss.

Ich mag es, wenn Vegetarier und Veganer zwischendurch bekennen, dass sie sich einen Fehltritt geleistet haben. Es dominiert dann nicht dieses Bewusstsein einer unendlich steigerbaren Reinheit. Das Fleischliche wurde ja immer mit dem Sündigen, mit dem Sexuellem, mit Vermischung assoziiert. Ich würde mal sagen, das ist auch das Schönste daran – nur muss es dann auch erlebt werden können. Vermischung, die nur noch in einem Pornostreaming im Internet stattfindet, ist keine mehr. Und Vermischung, die nur noch in den unsichtbar gewordenen Formen von Tieren stattfindet, die wir nicht mehr als Tiere erkennen, wenn wir sie verzehren, ist auch keine mehr. Vermischung ist das, was das Leben schön macht. Metamorphose, Verwandlung, Vermischung. Die Reinheit der Engel kann einem doch gestohlen bleiben.

Historische Macht wurde immer auch durch Völlerei, Schlemmerei und Entgrenzung symbolisiert.

Weil sich die Herrschenden mit Raubtieren identifizierten. Es gibt dafür eine ganze Reihe von Hinweisen auf Speisekarten an den Höfen absolutistischer Könige, speziell dem Sonnenkönig. Das Völlern bekam dem armen Kerl übrigens nicht gut: Er hatte nicht nur die Gicht, sondern auch noch Mund- und Gaumenkrebs und musste sich durch die umfangreichen Speisefolgen eher durchquälen. Aber im Überfluss drückte sich seine Macht aus.

Warum hat die Macht früher so gern den Überfluss inszeniert und darf das heute überhaupt nicht mehr?

Heute ist das tatsächlich etwas schwieriger geworden. Aber das ist noch nicht lange so. Von den Fünfziger- bis zu den Achtzigerjahren waren wohlbeleibte Politiker wie Ludwig Erhard oder Helmut Kohl in Deutschland durchaus beliebt. Wer so viel essen und so viel umsetzen kann, in Körpergewicht, Bauch und Fleisch, der hat auch – jedenfalls in den Projektionen der Wählerinnen und Wähler – die Macht über Not und Hunger. Von daher kann man auch diese tausendfach zitierte Äußerung von Marie Antoinette nochmal anders verstehen: „Wenn sie kein Brot mehr haben, dann sollen sie doch Kuchen essen“. An den Höfen war es kaum möglich zu verstehen, was die Kondition des Hungers eigentlich ist. Der Machthaber zeigt: Ich verspreche euch ein glückliches Leben, schaut Euch nur meinen Bauch an.

Hunger spielt in unserer Gesellschaft keine Rolle.

Fast keine Rolle. Auf eine seltsame Weise ist uns dieses Phänomen emotional fremd geworden. Wir sehen mit einem gewissen Entsetzen, aber auch mit einer gewissen Faszination die Fotos von schwer unterernährten Kindern – mit ihren riesigen Augen, ihren eingefallenen Bäuchen, winzigen Armen und Beinen, die nur noch aus Haut und Knochen bestehen. Aber es ist eher eine Faszination, die zwar eine Art Empathie erzeugt, aber ansonsten ähnlich funktioniert wie das Posten und Anschauen von irgendwelchen Tiervideos auf Instagram und Facebook. Da besteht noch ganz viel Informationsbedarf für das Verständnis von Hungersnöten und Hungerkrisen – wie sie jetzt im Übrigen auch durch den Krieg wieder drohen. Es ist seltsam, dass der Hunger aus unserer Wahrnehmung so weit herausgefallen ist.

Manchmal habe ich das Gefühl, dass der ständige Überfluss, in dem wir leben, auch wieder Löcher bekommt, sobald wir Phänomene wie Nahrungsmittelunverträglichkeiten oder Anorexie betrachten.

Diese Phänomene könnte man als Reaktion auf diesen Überfluss lesen. Solch eine Lektüre fände ich auch sehr interessant. Das gilt sowohl für die Anorexie als auch für diese vielen Versuche, uns Nahrungsmittel aufzudrängen, die bestimmte Eigenschaften nicht haben: Kein Zucker, keine Fette, keine Histaminanteile, usw.

Kein Alkohol. Hunger findet bei uns fast nur freiwillig statt und wird dann auch schnell wieder zu einem Optimierungsinstrument.

Das stimmt.

Wie ist Ihr persönlicher Umgang mit Fleisch?

M: Ich esse seit einigen Jahren nur noch selten Fleisch. Aber ab und zu eben doch. Dann achte ich aber viel sorgfältiger als noch vor zehn Jahren darauf, dass ich Fleisch von Tieren esse, die ein halbwegs anständiges Leben führen durften. Ich muss mal nachdenken, wann ich das letzte Mal Fleisch gegessen habe: Ein paar Wochen liegt das sicher schon zurück

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