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Musik

Was wir hören, wenn wir Keith Jarrett hören

Er ist ein genialer Musiker und dank dem «Köln Concert» selbst Jazzbanausen ein Begriff. Eine Verneigung vor einem der bedeutendsten Pianisten unserer Zeit.

© Paolo Woods

Meine Liebe zu Keith Jarrett war keine auf den ersten Blick. Ich lernte ihn, wie Millionen andere Jazzanalphabeten über sein „Köln Konzert“ kennen. Der weiße Plattenumschlag mit dem Schwarzweißbild des Künstlers gehörte in den Achtzigerjahren zur fixen Ausstattung kulturbeflissener Halbwüchsigenhaushalte, neben allen möglichen Castaneda-Büchern und eher ungelesenen Ausgaben von Hesses Glasperlenspiel.

Der Jazz hatte sich gerade in eine neue Richtung entwickelt. Er sprengte entweder als Free Jazz die Ketten von Tonalität und Rhythmus, oder er flirtete fusionmäßig mit der Rockmusik, die sich noch immer jedes halbe Jahr neu erfand.

Das Köln Konzert begleitete mich sowieso nicht als Jazzdokument, sondern als vielseitig einsetzbarer Klaviersoundtrack durch meine frühen Erwachsenenjahre. Es wärmte und euphorisierte mich bei Gelegenheit, aber es lud mich nicht dazu ein, unbedingt mehr von Keith Jarrett zu hören. Anderen Bands und Künstlern folgte ich bis ins Kleingedruckte auf Schallplatten- und CD-Hüllen. Das Köln Konzert hörte ich gelegentlich, ich liebte den Stimmungsaufbau des Konzerts, seine emotionale Kraft, die Massivität des Wohlklangs, und ich hatte nicht die geringste Ahnung davon, dass der Künstler Keith Jarrett in Wahrheit dabei war, der vielleicht bedeutendste Pianist der Welt zu werden und nicht das geringste Interesse dafür aufbrachte, ein, zwei Generationen von Nachwuchsmusikliebhabern als Stimmungsaufheller zu dienen.

Für mich veränderte sich alles erst mit Keith Jarretts Album „The Melody at Night, With You“. Es erschien 1999, und ich verdanke es meinem Plattenhändler, der mir die CD mit dem melancholischen Bild auf dem Cover – eine Blumenvase im Gegenlicht, geschmackvoll in Schwarzweiß komponiert – einfach zu meinen anderen Einkäufen legte. Als ich das Album ein paar Tage später zum ersten Mal in den CD-Player schob, schlug der Blitz ein.

Das Album beginnt mit Gershwins „I loves you, Porgy“, einer schlichten, wohlbekannten Jazzmelodie. Jarrett spielt das Stück mit einer so berührenden Innigkeit, dass sich sofort alle anderen Geräusche aus dem Raum verabschiedeten. Manchmal tritt dieses Phänomen bei Gesprächen auf, wenn sich im anarchischen Durcheinander vieler Stimmen plötzlich ein unwiderstehlicher Gedanke materialisiert. Der Lärm verstummt sofort.

Der große Kollege und Jazzexperte Peter Rüedi, ungleich berufener als ich in seiner vergleichenden Einschätzung, sagt: „So innig, schlicht und ergreifend hat Gershwin selbst „I loves you, Porgy“ vielleicht geträumt, aber nie gehört…“

Die magnetische Wirkung hat „The Melody at Night, With You“ bis heute nicht auf mich eingebüßt. Im Gegenteil, inzwischen ist diese Musik aufgeladen mit Erlebnissen, mit heiterer Melancholie, aber auch mit Tragik und Abschieden. „I loves you, Porgy“ erklang gleich auf zwei Trauerfeiern für geliebte Menschen, und ich habe wahrscheinlich kein anderes Album so oft und so intensiv gehört wie dieses. Bis heute gelingt es mir nicht, die acht Standards und zwei Traditionals, denen Jarrett nur eine winzige „Meditation“ hinzufügt, im Anschluss an „Blame It on My Youth“, nebenbei, als Hintergrundmusik zu hören. Die Musik verlangt Aufmerksamkeit, Konzentration, Hingabe.

Ich kann mir das nicht anders erklären als mit den außergewöhnlichen Umständen, unter denen das Album entstand. Jarrett litt seit den späten Neunzigerjahren an einem chronischem Erschöpfungssyndrom, das ihm das Musizieren unmöglich machte. Als sich sein Zustand langsam zu bessern begann, ging er an Tagen, an denen er sich nach dem Erwachen besser fühlte, vom Wohnhaus hinüber in sein Musikstudio, wo der Hamburger Steinway stand, den Jarrett gerade überholen lassen hatte. 

Er wollte seiner Frau Rose Anne ein Dokument seiner Genesung zu Weihnachten schenken. Deshalb schaltete Jarrett, wenn er die Kraft hatte, morgens ein paar Minuten zu spielen, sein Tonbandgerät ein. In einem Interview mit dem „Time Magazine“ beschrieb er, wie es ihm gelang, das Aufnahmemikrofon so zu platzieren, dass er dank der neuen Mechanik des Flügels mit maximaler Sanftheit spielen konnte. So kam die innere Dynamik der Melodien zum Vorschein, nicht die Kunst des Virtuosen.

Jarrett selbst beschrieb die Aufnahmen so: „Es war eines von diesen kleinen Wundern, für die man bereit sein muss. Aber Teil davon war auch, dass ich gerade nicht genug Energie hatte, um raffiniert zu sein.“ 

In der Biografie des FAZ-Journalisten Wolfgang Sander beschreibt Jarrett den Entstehungsprozess noch genauer: „Ich hatte nur die Kraft für eine einzige Sache, die dadurch so etwas wie einen Zen-Charakter bekam – schlank, anmutig, diskret. Es sind Aufnahmen, die zeigen, wie man Melodien spielen kann, ohne zugleich raffiniert zu sein. Ich habe mich gewissermaßen von Jazz-Harmonien entgiftet, die aus dem Kopf stammen und nicht aus dem Herzen.“

Es ist eine berührende Geschichte, die interessanterweise eine gewisse Verwandtschaft mit der Geschichte des Köln Konzerts aufweist, auch wenn Jarrett selbst das niemals so stehen lassen würde. Seinen späteren Biografen Wolfgang Sander strafte er mit kalter Schulter, als dieser die Ausnahmestellung des Köln Konzerts lobte und bezweifelte dessen Eignung, sein, Jarretts Werk tatsächlich in der nötigen Komplexität zu erfassen. Die Arbeit an der Biografie begann erst Jahre später.

Auch das Köln Konzert entstand – darin besteht die Verwandtschaft – unter außergewöhnlichen Einschränkungen. Das Konzert war kurzfristig angesetzt worden, weil die damals siebzehnjährige Jazz-Enthusiastin Vera Brandes eine Lücke in Jarretts Tourneeplan gesehen und kurz entschlossen das Kölner Opernhaus für ein Mitternachtskonzert gemietet hatte.

Jarrett und sein Manager Manfred Eicher waren nach einem Konzert in Basel noch nachts mit dem Auto nach Köln gefahren. Als Jarrett übermüdet den Saal mit seinen 1400 Plätzen inspizierte, stand dort ein falscher Flügel. Statt des Bösendorfer Konzertflügels hatten die Bühnenarbeiter einen Bösendorfer Imperial, einen abgenutzten Stutzflügel, auf die Bühne geschoben, der nur mehr bei Proben zum Einsatz kam, niemals bei Konzerten. Zahlreiche Tasten klemmten. Das Klavier war total verstimmt. Die Pedale funktionierten nicht.

Jarrett probierte das Klavier aus und schüttelte ungläubig den Kopf. Sein Manager sagte sofort: „Auf diesem Flügel kann Keith kein Konzert spielen.“

Die siebzehnjährige Veranstalterin beobachtete wenig später, wie Keith Jarrett in sein Auto stieg, offensichtlich, um abzureisen. Sie rannte ihm nach, riss die Autotür auf und kniete neben dem Künstler auf der Straße.

„If you don’t play tonight“, sagte sie flehentlich, „I will be really fucked.“

Die Kölner Oper war ausverkauft.

Jarrett betrachtete die junge Frau lange. Dann sagte er: „But never forget. Just for you.“

Auch das Abendessen misslang. Das Essen war miserabel, Jarrett hatte Rückenschmerzen und schlechte Laune. Ein Klavierstimmer vollbrachte in der Zwischenzeit das Wunder, den Stutzflügel irgendwie spielbar zu machen. 

Mehrere Probleme konnte auch er nicht lösen. Das Klavier war zu klein für den großen Raum. Die Töne trugen nicht bis hinauf auf die Ränge. Das hatte paradoxerweise zur Folge, dass das Publikum außergewöhnlich leise und aufmerksam sein musste, um Jarrett überhaupt hören zu können.

Einen weiteren Mangel hatte auch der ingeniöse Klavierstimmer nicht beseitigen können. Jarrett konnte nicht die ganze Tastatur bedienen. Sowohl bei den tiefen Tönen als auch in der Diskantregion klemmten einzelne Tasten, Jarrett war also auf die mittleren Lagen festgelegt. Er stand vor der Aufgabe, eine Vielzahl von Mängeln kreativ ausgleichen zu müssen.

Das Konzert beginnt mit einem lockenden, sehnsüchtigen Motiv aus vier Tönen. Das Motiv zeichnet die Konturen eines Bildes auf eine große, weiße Leinwand, klar und deutlich sichtbar, elegant und verständlich.

Jarrett wiederholt, prüft die Tonfolge mit der rechten Hand und führt sie fort. Die Linke spielt zuerst nur einen einzelnen Ton, tastend, fragend, dann folgt sie der Melodie in die neue Harmonie und beginnt das Suchen der Rechten mit tragenden Akkorden zu unterstützen, gibt der Melodie Halt, stützt sie bei ihrer Suche nach Entfaltung.

Es entwickelt sich Rhythmus, der Pulsschlag des Stücks, das nur „Part I“ heißt, Jarrett probiert zuerst pulsierende Harmonie, Wohlklang aus, bevor er den Kontext zu ergründen versucht, wohin könnte mich diese Idee wohl führen, er schweift ab, lässt den Rhythmus liegen, probiert neue, gewagte Tonfolgen, die vielleicht einen ganz anderen Weg einschlagen könnten, er entscheidet sich dagegen und kehrt zurück in das früh skizzierte harmonische Muster, bleibt dabei unsicher, prüft den Anschlag des Klaviers, kleidet das Suchen in Kaskaden und Läufe, während er mit der linken Hand sicherstellt, dass das Territorium des Stücks sicher bestellt wird, er wiederholt das erste Motiv, jetzt kräftig und entschlossen, variiert es, gibt ihm Breite, Energie, Lautstärke, Volumen, während er mit den Füßen hörbar den Takt stampft und immer wieder mit seiner schmalen Stimme die Melodie verstärkt, prüft, manchmal auch nur stöhnt, was ihn zu einem zweiten Motiv führt, selbstbewusster, massiver jetzt, ein Cantus firmus, ein Ostinato, man hört wie Jarrett selbst fortgetragen wird vom Stampfen und Rollen, einfachste Bauart, erste und fünfte Stufe, Rhythmus, Emotion, ein breiter Pinsel, der die Leinwand kreuz und quer bemalt, wild, aber attraktiv, entfesselt und fesselnd zugleich, ein Künstler, der gerade Funkverbindung zum geheimen Flugobjekt seiner Inspiration aufgenommen hat, und die Verbindung steht und steht und steht, bis sie reisst.

Der Rest ist Geschichte. Das Köln Konzert vom 24. Januar 1975 ist nicht nur Keith Jarretts berühmtestes Konzert, es ist mit fast vier Millionen verkauften Alben das erfolgreichste Jazzalbum aller Zeiten, wahrscheinlich, weil es genau genommen gar kein Jazzalbum ist, sondern Musik enthält, die sich heute wie damals einer genauen Zuordnung entzieht und sich nicht um die Grenzen zwischen Genres schert. 

Es ist ein Jarrett-Album, auch wenn Jarrett selbst später über seinen größten Hit sagte:

„Ich höre es eigentlich nicht so, als hätten es meine Hände gespielt.“

Keith Jarrett hat eine besondere Beziehung zu seinen Händen. Er lässt sie, würde der Abteilungsleiter eines Kreativunternehmens sagen, einfach machen. Bei seinen Solokonzerten geht der Künstler auf die Bühne, ohne zu wissen, was er spielen wird. Sein zentrales Mittel ist die Improvisation, die Präsentation von Musik im Augenblick ihres Entstehens. Es macht das Werk von Jarrett so außergewöhnlich, dass er den Schöpfungsakt, den Moment, wenn Inspiration sich durch den Künstler in Musik verwandelt, mit seinem Publikum teilt. Er geht hinaus auf die Bühne, setzt sich ans Klavier, atmet und lässt geschehen, was geschehen soll.

„Wenn ich mich ans Klavier setze, möchte ich wie nackt sein.“

So beschreibt Jarrett sein Vorgehen. Er verbietet sich strikt, mit einer vorgefaßten Konzeption von Musik auf die Bühne zu gehen, und natürlich wohnt dem öffentlichen Schöpfungsakt etwas Mystisches, Heiligmäßiges inne, die Verwandlung von Dunkelheit in Licht, von Stille in Klang, von Wasser in Wein. 

Wohin sich die Musik entwickelt, ist unbekannt, vor allem dem Künstler selbst. Vielleicht finden seine Hände zu virtuosen Bebop-Läufen, vielleicht erkunden sie mit bestechender Klarheit meditative Tonfolgen, vielleicht gebrauchen sie mit hämmernder Präzision das Klavier als Rhythmusinstrument, vielleicht verirren sie sich zu den blauen Noten des einen oder anderen Jazzklassikers, wühlen im Blues, untersuchen Klänge, die an Bartók, Debussy oder Shostakovich erinnern, vielleicht verfolgen sie zwischenzeitlich auch Ideen der barocken Kontrapunktik oder nehmen Rache am Instrument.

Keith Jarretts ist ein Universalist, er beherrscht mehr als eine musikalische Sprache. Er nahm Klavierunterricht, seit er drei war, ein deklariertes Wunderkind. Erste Auftritte mit sieben, klassische Ausbildung am Berklee College of Music. Gleichzeitig Barpianist, blutjunger Partner von Jazzgiganten wie Art Blakey und Charles Lloyd, erste eigene Band mit dem Bassisten Charlie Haden und dem Schlagzeuger Paul Motian. 

Berühmt wurde Jarrett, Jahrgang 1945, als Mitglied der Jazzrockformationen von Miles Davis Ende der Sechzigerjahre, wo er zum ersten Mal elektrisch verstärkte Instrumente spielte. Wenig später begann er mit seinen improvisatorischen Solokonzerten, die von da an, wie es der Dichter Robert Bly ausdrückte, „einer Serie von Wiedergeburten gleichkommen“, einem „Tagebuch“, das Jarretts jeweiliges Denken und Fühlen in größter Radikalität und Ehrlichkeit widerspiegelt. 

Jarrett bestätigt das aphoristisch: Der Abwägungsprozess beim Improvisieren sei „eine der schnellsten Sachen, die ich kenne, und man hat dabei nur Zeit, der zu sein, der man in diesem Moment wirklich ist.“

Mit Musikern wie Jan Garbarek, Airto Moreira und Freddie Hubbard lotete Jarrett die Möglichkeiten von europäischem, lateinamerikanischem und klassischem Jazz aus, nahm auf der Riepp-Kirchenorgel in Ottobeuren sphärische und etwas obskure Hymnen und Improvisationen auf, wendete sich suchend dem Clavichord zu und spielte, zum Teil auf dem Cembalo, Johann Sebastian Bachs „Goldberg-Variationen“, Händels Klaviersuiten und das kanonische „Wohltemperierte Klavier“. 

Seine Ausflüge in die Klassik blieben umstritten. Das klassische Publikum misstraute dem Jazzer auf die übliche, blasierte Weise, das Jazzpublikum zeigte sich enttäuscht davon, dass Jarrett die Grenzen der Werke nicht sprengt. Jarrett verteidigte sich mit dem Argument, dass Bachs Musik so vollkommen sei, dass Interpretation durch den Pianisten überflüssig sei. Mir sind unter Jarretts Klassikeinspielungen die 24 Präludien and Fugen von Dmitri Shostakovich die liebsten, weil sie – wie es Julian Barnes in seinem Shostakovich-Roman „Der Lärm der Zeit“ so eindrucksvoll beschreibt – zwischen den Polen ätherischer Gefälligkeit und Zertrümmerung der Konventionen angesiedelt sind. Das könnte auch als Beschreibung der musikalischen Reichweite Keith Jarretts funktionieren.

Wir hören, wenn wir Keith Jarrett hören, manchmal Schöpfung, manchmal Dekonstruktion. Wir hören künstlerische Selbstverwirklichung in Echtzeit und abwägende Demut vor fremden, angeeigneten Kompositionen. Wir hören, wie fraktal Musik gedacht, erlebt, produziert und reproduziert werden kann, und wie nahe einander das Euphorische und die Stille sind. Wir hören, wenn wir Keith Jarrett hören, die Dehnung vertrauter Begriffe und eine menschliche Klarheit, die den herkömmlichen Interpretationsbegriff überflüssig macht.

Wir hören Möglichkeiten. Wir hören Introspektion. Wir hören, wie sich einer selbst befragt und uns einlädt, es ihm gleich zu tun: Fragen stellen, Antworten finden, immer wieder, noch einmal, täglich neu, bis die persistierenden Fragen Antworten zum Vorschein bringen, die, wenigstens für einen Augenblick, Ruhe einkehren lassen: einen kurzen, aufgeladenen Moment jener spezifischen Ruhe, wie sie den letzten Ton eines Konzerts und den einsetzenden Applaus verbindet.

Wir hören, wie Jarrett die philosophischen und spirituellen Fragen, die ihn drängen, mit Musik beantwortet. Wie er seine Biografie, seine Überzeugungen, Verwerfungen konsequent in sich ständig ändernde Klänge verwandelt. Peter Rüedi sieht darin „einen geradezu Goethe’schen Naturvorgang von Einatmen und Ausatmen: Ausdehnung und Verdichtung, Verausgabung und Konzentration, Selbstrealisation und Demut“. 

Jarrett selbst beschreibt die Annäherung an das spirituelle Zentrum seines Schaffens poetisch:

„Ich habe das Feuer lange Zeit umworben, und in der Vergangenheit sind viele Funken geflogen. Aber [jetzt spricht] die Musik endlich die Sprache der Flamme selbst.“

Sein letztes Konzert spielt der Pianist Keith Jarrett im Februar 2017 in London. Er tritt, wie schon viele Male davor, in der legendären Carnegie Hall auf. Donald Trump ist gerade als amerikanischer Präsident vereidigt worden, und Jarrett zeigt sich ungehalten über die ersten Erlässe, die Trump, kaum im Amt, herausgegeben hat. 

Ganz gegen seine übliche Art macht Jarrett seinem Ärger in mehreren Ansagen Luft. Er empfindet die Trump-Administration als unamerikanisch, er bezichtigt Trump, ganz zu Recht natürlich, keinen Respekt für gar nichts zu haben, und das ist insofern bemerkenswert, als der Invektive gegen Trump ein Vorfall vorausgegangen ist, den eingefleischte Jarrett-Fans deutlich mehr fürchten als einen amerikanischen Präsidenten. 

Als der Künstler nach der Pause zurück auf die Bühne kommt, empfängt ihn aus den hinteren Reihen ein Blitzlicht. Nun ist Jarrett bekannt dafür, seinem Publikum nicht einmal ein Husten oder Schnäuzen durchgehen zu lassen, geschweige denn Fotos, und schon gar nicht mit Blitz. Es gibt unzählige Berichte aus Jarrett-Konzerten, wo Jarrett darauf bestand, Menschen, die nur ein nebbiches Erinnerungsfoto mit ihrem Handy machen wollten, aus dem Konzertsaal entfernen zu lassen, sonst spiele er nicht weiter. Aber diesmal belässt er es bei einer Ermahnung. Es gehe gar nicht um ihn, sagt Jarrett, als er den Fotografen tadelt, es gehe um Respekt für andere Künstler. Beim Stichwort „Respekt“ fällt ihm dann wieder Trump ein, und er entläßt den Störenfried als kleineres Übel aus seiner Verantwortung.

Das hätte auch anders ausgehen können. Der Schriftsteller Clemens Setz berichtete von einem Jarrett-Konzert im Wiener Musikverein, wo Jarrett dem Publikum so richtig die Leviten las: „Als der zweite Teil begann, trat Jarrett wieder ans Mikrofon. In ruhigem Zorn intonierte er den  Satz, den Jack Nicholson in einer furchterregenden Szene in The Shining in identischem Tonfall zu Shelley Duvall sagt: ,Let me explain something to you.’ Und er erklärte: ,Dass Sie glauben, Sie können, trotz der einleitenden Worte, sich einfach in einen künstlerischen Prozess einmischen, durch Geräusche und durch Fotos, ist einer der Gründe, warum die Welt fucked up ist. Und wenn ich nicht in der Position wäre, dies in ein Mikrofon sagen zu können, wäre ich nicht mehr als ein Tier im Käfig, das von allen Seiten fotografiert wird.’“

Die Sensibilität des Künstlers ist die Kehrseite seiner schöpferischen Transparenz. Man kann Jarrett überempfindlich nennen, aber gleichzeitig ist seine Idiosynkrasie die Quelle seiner Kreativität und damit die Garantieerklärung an den Zuschauer, dass er in einem Konzert niemals eine bereits ausprobierte Idee erleben wird. Der Zuschauer und Keith Jarrett schließen einen Pakt, und der Pianist besteht darauf, dass er eingehalten wird.

Bei seinem letzten Konzert in London spielte Jarrett zwei Zugaben. Als er sich nach langem Applaus gerade wieder an das Klavier setzen will, ruft ein Zuschauer vernehmlich in die Stille: „We love you, dude“.

Jarrett springt wie von einer Nadel gestochen wieder auf und geht zurück zum Mikrophon. 
Er sagt: „Darauf muss ich antworten“. 
Das gut erzogene Publikum zieht den Kopf ein, in Erwartung der obligaten Zurechtweisung. 
Aber Jarrett sagt bloß: „I love you, too.“

Zum Abschluss spielt er „Autumn Nocturne“, eine Ballade von John Myrow aus den vierziger Jahren, ein Stück, wie er es tausende Male gespielt hatte, solo, im Duett mit Charlie Haden oder im Trio mit seinen long time companions Gary Peacock und Jack Dejohnette, und das Stück entfaltet seinen ganzen Zauber, das Publikum dankt mit enthusiastischem Applaus. 

Als sich Jarrett anschickt, zum letzten Mal an diesem Abend die Bühne zu verlassen, kehrt er noch einmal ans Mikrophon zurück und sagt: „Ihr seid das erste Publikum, das mich zum Weinen bringt.“

Jarretts Schlusssatz ist schon pathetisch genug. Aber ihm wächst zusätzlich eine fast schon überlebensgroße Bedeutung zu, seit bekannt wurde, dass Keith Jarrett, wenn nicht ein Wunder geschieht, nie wieder auftreten wird. Er erlitt im Februar 2017, wenige Wochen nach dem Carnegie Hall Konzert, einen Schlaganfall, dem im Mai darauf ein zweiter folgte. Seither kämpft Jarrett mit den Folgen einer halbseitigen Lähmung. 

Teile seines Körpers funktionieren, mehr als drei Jahre nach der ersten Diagnose, noch immer nicht störungsfrei, wie Jarrett vor einigen Wochen in einem Telefongespräch mit der New York Times bekannt gab. Vor allem die linke Hand ist beeinträchtigt. Jarrett sieht die vage Möglichkeit, dass die Hand sich soweit erholen könnte, dass er damit eine Tasse halten kann. Die Möglichkeit, mit beiden Händen Klavier zu spielen, schließt er hingegen kategorisch aus. Er sagt im selben Telefongespräch, dass er nicht wisse, wie seine Zukunft aussieht. Alles, was er sagen könne: Er fühle sich nicht mehr als Pianist.

Wir hören also, wenn wir Keith Jarrett hören, Teile eines Werks, dem nichts mehr zuwächst. Tröstlich ist, dass seine Plattenfirma ECM praktisch alle Solokonzerte mitgeschnitten hat, akribisch auf eine außergewöhnliche Tonqualität bedacht, und dass wir darauf vertrauen können, in Zukunft weitere Einblicke in Jarretts Katalog von allem zu bekommen. 

Es tröstet mich auch, immer wieder auf die Momente zurückgreifen zu können, in denen Jarrett die Durchdringung von Schönheit, Spiritualität und Tiefe festgehalten hat, zeitlos und für die Ewigkeit genauso bestimmt wie für den Augenblick. A Melody At Night, With You. Jasmine, mit Charlie Haden. Das Wien-Konzert von 1991. Das Venedig Konzert von 2006.

Zeitgleich mit Jarretts Abschied von den Bühnen der Welt ist jetzt das Konzert aus Budapest erschienen, das dadurch, wenigstens zwischenzeitlich in den Rang eines Vermächtnis gehoben wird. Es fügt Jarretts Momenten für die Ewigkeit nicht zufällig einige ganz besondere hinzu.

Budapest war das erste Konzert von Jarretts Europatournee 2016. Es fand in der Béla-Bartók-Konzerthalle statt. Jarrett, dessen Familie Wurzeln in Ungarn hat, fühlt sich zu Hause und spielt ein Konzert, das mühelos die Register zwischen Klassik, neuer Musik, Gospel, Blues und Jazz wechselt, oft im selben Stück – ich weiß nicht, ob mir Bartók als Einfluß bloß wegen des Orts einfällt oder wegen des virtuosen Umgangs mit Rhythmus, Atonalität und berückenden Volksmusikmelodien. 

Gleichzeitig gestattet sich Jarrett völlig ungebrochene, harmonische Schwärmereien, heiter und sonnig, wie Etüden, die beweisen wollen, wie eng Schlichtheit und Schönheit zusammengehören. Er zeigt sich nachdenklich, versunken. Er begehrt brüsk gegen die Stille auf, und zuletzt kehrt er zurück zu den versöhnlichen Standards, die auf dem Grunde seines Herzens verankert sind. 

„It’s A Lonesome Old Town“ ist zum Weinen schön, in all der Klarheit, der Subtilität und dieser tief empfundenen Verständlichkeit, mit der Jarrett die hundert Mal gehörte Melodie von allem Ballast und Überschwang befreit und sie nachschwingen lässt, atmen, transzendieren. 

„Answer me“, die letzte Zugabe, die Jarrett in Budapest spielt, bringt schließlich erlösende Leichtigkeit. Jarrett beginnt den Standard wie ein Menuett von Mozart. Er atmet tief ein, die Musik schwillt an, er atmet aus, die Musik bleibt liegen und verklingt. 

Sie schlägt die Brücke hinüber in die Ewigkeit. 

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