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Gesellschaft

Diese verräterische Hoffnung

Wieso Christian Seiler nicht mehr an die Hoffnung glaubt, sich aber nach ihr sehnt. Veröffentlicht in "Der Standard"

Sobald die Lage beschissen ist, hat die Hoffnung Konjunktur. Kaum jemand von uns Boomern hat etwas erlebt, was der Gesellschaft ähnlich in die Parade fährt wie diese Pandemie: Sie bedroht unsere Liebsten, unsere Gesundheit, unser Auskommen, vor allem aber unser Lebensgefühl. 

Viele von uns konnten ein Leben lang tun, was sie wollen, erfuhren dafür meistens Bestätigung und Zustimmung. Von heute auf morgen ist das vorbei. Die selbstverständlichsten Selbstverständlichkeiten, das Treffen von Menschen, persönlicher Austausch, Nähe und Zuwendung, sind von heute auf morgen Infektionsquelle, Bedrohung, tabu. 

Die Wesentlichkeiten des täglichen Lebens sind sistiert, mindestens, und natürlich haben wir grundsätzlich Verständnis dafür – die „Querdenker“, die sich ins Team geschummelt haben, sollen den Mund halten. Der Kontext ist allzu einleuchtend. Die Beschränkungen sind ohne Alternative. 

Wir leiden also auf hohem Niveau vor uns hin, haben zwar „warme Wohnungen, fließendes Wasser, mehr Geschenke als wir brauchen und Netflix“, wie es „Der Gazzeteur“ auf Twitter richtig bemerkt, und werden trotzdem darauf eingestimmt, dass wir das „härteste Weihnachten“ vor uns haben, „das die Nachkriegsgenerationen je erlebt haben“. Das sagt dann immerhin Armin Laschet, einer der aktuellen Kandidaten für den CDU-Vorsitz.

Worauf hoffen wir also, wenn wir täglich die Infektionszahlen sortieren, statistischen Mustern nachspüren, erschüttert sind über die Toten von gestern und auf dem Grunde unseres Herzens wissen, dass die ganze Scheiße noch lang nicht vorbei sein wird, länger jedenfalls, als uns lieb ist?

Hoffen wir darauf, dass sich die Pandemie schneller verzieht, als der nächste Hobbyvirologe „Inzidenz“ sagen kann? Dass die mehr als eine Million Coronatoten im Himmel droben auf einer Wolke sitzen und uns zurufen, dass wir eine FFP-2-Maske aufsetzen sollen? 

Hoffen wir darauf, dass durch kluge Maßnahmen der Politik, den weitsichtigen Einsatz neu zugelassener Impfstoffe und koordinierte Anstrengungen der Gesundheitsbehörden der „status quo ante“ wieder hergestellt werden kann? Dass wir im Jahr 2021 sozusagen nach 2019 zurückgebeamt werden, ein Jahr, von dem wir sicher nicht wussten, dass wir uns einmal nach ihm zurücksehnen würden? 

Dass wir wenigstens wieder unbefangen Hände schütteln, Bussis geben, Freunde umarmen, im Schweizerhaus ein paar Krügel Bier trinken – ich meine, wie soll man je vergessen, dass der deutsche Leitvirologe Christian Drosten schon lange vor Corona immer nur Bier aus der Flasche trank, um sich nicht an oberflächlich gespülten Biergläsern etwas einzufangen?

Tatsache ist, dass wir gar nicht wissen, worauf wir hoffen. Wir hoffen trotzdem. Das liegt in der Natur der Hoffnung, die ja bekanntlich zuletzt stirbt. Gerade unter Umständen, die objektiv eigentlich das Gegenteil nahelegen, leitet sie uns an, eine „fundamentale, positive Erwartungsemotion“ zu entwickeln. So definiert es das Lexikon der Psychologie, das im Beipacktext allerdings davor warnt, dass es sich dabei durchaus um „unrealistische Erwartungen“ handeln könnte.

Nun ist es ein fester Bestandteil unserer christlich-abendländischen Tradition, gemeinsam unrealistische Erwartungen zu beschwören, kniend, singend, aus einem gemeinsamen Kelch Wein trinkend, den wir für Blut halten – ich muss bei Christian Drosten bei Gelegenheit nachfragen, wie er es hygienemäßig mit der Eucharistie in der gut geheizten Pfarrkirche hält. Die Hoffnung zählt folgerichtig neben dem Glauben und der Liebe zu den „drei christlichen Tugenden“, symbolisiert durch Anker, Vogel oder Zweig.

Ich nahm daher den vertrauten Duft von Weihrauch wahr, als sich unser Bundeskanzler bei einer seiner sommerlichen Pressekonferenzen plötzlich veranlasst sah, Hoffnung zu verbreiten. Er hält ja nicht nur seine Hände so wie ein Pfarrer. Er sprach, wie wir uns alle erinnern, davon, dass coronamäßig ein Licht am Ende des Tunnels zu sehen sei, und ich wunderte mich darüber, dass der bis dahin weitgehend sachliche Kanzler plötzlich diese neue Kategorie in seine Rhetorik einführte, dass er uns eine „fundamentale, positive Erwartungsemotion“ vermitteln wollte, deren wärmende Glut von der Realität, wie der Kanzler besser wissen musste als wir, ziemlich bald unangenehm abgelöscht werden musste.

Was das Messianische in der Politik betrifft, bin ich schon seit Obama ernüchtert. Klar, ich war verzaubert, als er und sein Team 2008 am ganz großen Rad der Emotionen drehten. Obamas Predigerstimme, sein Slogan „Yes we can“, die Tatsache, dass ein Schwarzer sich anschickte, das Weiße Haus zu erobern, elektrisierte mich wie Millionen andere. 

Der Grafiker Shepard Fairey entwarf in diesem Wahlkampf das berühmte Poster, auf dem er Obamas Gesicht in rot, beige und blau schematisierte. Darunter platzierte er in einer besonders bekannten Version das Wort HOPE, Hoffnung, in Versalien, und ja, diese Hoffnung war auch über den Atlantik zu spüren, sie vibrierte und wärmte. Aber sie begann sich bald nach Obamas Amtsantritt an der Realität abzunutzen. 

Selbst Obamas brillante Rhetorik, sein Humor, die wohltuende Verankerung im Faktischen konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass er an den Erwartungen scheiterte, die er entfesselt hatte. 

Die Rache für Obama war Trump. Auch Trump spendete Hoffnung, nämlich denen, die von der Obama-Präsidentschaft konsterniert waren, den weißen Suprematisten, den Abgehängten, Rassisten und Tankwarten. „Make America Great Again“ versprach die Korrektur, die Auslöschung dessen, wofür wir die Obama-Präsidentschaft gehalten hatten, nämlich die Hoffnung auf Fortschritt, Aussöhnung und Gleichberechtigung. 

Auch Trump ist inzwischen gescheitert, zum Glück. Aber ich wäre vorsichtig, seine Nachfolger, wie es das deutsche Wochenblatt „Die Zeit“ tut, schon wieder mit der Titelzeile „Hoffnung“ willkommen zu heißen. Ich bin ein sentimentaler Optimist und verstehe sehr gut, dass man Sehnsucht nach Hoffnung haben kann, aber in diesem Zusammenhang halte ich es lieber mit dem Regisseur, Schriftsteller und großen Zyniker Heiner Müller, der schrieb: „Hoffnung ist etwas für Leute, die unzureichend informiert sind.“

Sobald die Politik Hoffnungen schürt, wartet um die Ecke die Enttäuschung. Obama hat Amerika nicht zum Besseren verändert. Des Kanzlers Licht am Ende des Tunnels war ein Irrlicht. Selbst die Erleichterung, die sich am Beginn der Pandemie einstellte, als mir nicht Herbert Kickl und Beate Hartinger-Klein das Spazierengehen verboten, sondern Rudi Anschober und Werner Kogler, erweist sich in der Retrospektive als „unrealistische Erwartungsemotion“. Viel mehr Chaos hätte die türkis-blaue Koalition auch nicht angerichtet. Wir hätten uns nur zwischenzeitlich noch schlechter gefühlt.

Vielleicht müssen wir darüber nachdenken, worauf wir hoffen dürfen – und worauf wir überhaupt hoffen sollen. Impfstoff und Medikamente werden die akute Gefahr durch Corona über lang oder kurz entspannen. Aber in welche Realität wird uns das hinübertragen? 

Sobald Corona sich verabschiedet, werden wir durchatmen und uns in die Arme fallen, gemeinsam Choräle singen, Bier vom Fass trinken und andere unvernünftige Dinge tun. Aber schneller als uns lieb ist, werden wir einen tauglichen Umgang mit der monumentalen Bedrohung durch den Klimawandel finden müssen, gegen den es erstens noch keine Impfung gibt – und gegen den sich zweitens ungleich mächtigere Impfgegner in Stellung gebracht haben als gegen Covid-19. 

Das Glück, eine monumentale Krise bewältigt zu haben, wird also nur eine Zwischenstation sein, bevor wir die Lektion lernen müssen, die unsere Kinder, die Millennials, schon viel besser verinnerlicht haben als wir: Es gibt keine Hoffnung auf eine postcoronatische Restauration der Unbeschwertheit. Es gibt kein Monopol darauf, glücklich zu sein.

Der Philosoph Wilhelm Schmid kritisierte schon lange vor Corona die „Diktatur des Glücks“ als ein zentrales Problem unserer Gesellschaft. Unglück sei für uns allenfalls etwas, was umgehend überwunden werden müsse. 

Diesen Imperativ stellt Schmid in Frage. Die Kosten des modernen Lebens und Wirtschaften seien nicht mehr zu beherrschen. Je jünger die Menschen, desto größer die Probleme, die ihre Vorgängergenerationen ihnen hinterlassen. Es gibt, so Schmid, keine Spur mehr „von großen Hoffnungen für die Beglückung der Menschheit.“

Aber was kommt nach der Hoffnung? 

Vielleicht folgt auf die Hoffnung die Melancholie. Vielleicht lernen wir, wie fast alle Generationen vor uns, mit Enttäuschungen zu leben und kalibrieren unser Verhältnis zum Glück neu. Vielleicht wollen wir uns nicht mehr von Balkengrafiken trösten lassen, die neue Höhenflüge des Dow Jones darstellen, oder von einem weiteren Buch von Steven Pinker, in dem er uns beweist, dass es der Welt noch nie so gut ging wie heute. Vielleicht leuchtet uns stattdessen ein Grundsatz ein, mit dem sich viele Verfolgte anfreunden mussten: Nichts erwarten und auf alles vorbereitet sein.

Als sentimentaler Optimist geht es mir mit der Hoffnung wie dem sentimentalen Agnostiker Julian Barnes mit Gott. 

Ich glaube nicht mehr an die Hoffnung. Aber ich vermisse sie.

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