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Musik

War die Popmusik früher besser?

Ich bin popmusikmäßig ein strukturkonservativer Trottel. Sobald ich die tanzende Gitarre von J.J. Cale höre, werde ich schwach. Bob Dylan ist mein Papst, David Bowie sein Gegenpapst. Wenn Rickie Lee Jones zu singen anhebt, fühle ich mich persönlich verantwortlich dafür, dass dem Vortrag von allen Anwesenden Aufmerksamkeit geschenkt wird, schweigend.

Apropos: Rickie Lee Jones sah ich in den neunziger Jahren einmal im Volkshaus Zürich. Sie hatte gerade ein neues Album mit Jazzstandards namens – guter Scherz – „Pop Pop“ aufgenommen, die sie mit ihrer kleinen feinen Band zur Aufführung brachte. Die zwölf Songs reichten bis zur Pause. Nachher spielte die Band kein Repertoire mehr, sondern irgendwas, was alle spielen konnten. Einen Rolling Stones-Song, etwas von John Fogerty, so Zeug. Der absolute Höhepunkt für mich war, als Rickie Lee Jones die Band von der Bühne schickte und allein zu ihrer Gitarre „How Can I Tell You“ von Cat Stevens sang, diese Ballade, die mit ihrer ewigen Melodie das Zeug zum Schubertlied hat.

So, dachte ich mir, muss Popmusik sein: uneitel, aus dem Augenblick geboren, substantiell und berührend.

Vor ein paar Wochen sah ich Rickie Lee Jones wieder. Sie spielte vor einer Handvoll Fans in einem Club. Wie damals trug sie enge Hot-Pants und hatte ihre kleine, feine Band – junge Musiker, die ihr Handwerk an diversen Jazzakademien gelernt hatten – total unter Kontrolle. Das bedeutete: Zu lang durften die Instrumentalsolos nicht dauern. Rickie spielte ihre Hits und erzählte ein paar Geschichten: „Damals, als Tom und ich….“ – schon atmete das sachkundige Publikum zischend durch die Zähne ein, weil wir natürlich wussten, Tom, halt, damit ist Tom Waits gemeint, mit dem Rickie seinerzeit ein Paar war. Ich glaube, es gab sogar Applaus, wie immer, wenn irgendwer im Publikum irgendwas kapiert, was gerade auf der Bühne passiert.

Rickie reagierte wenig erfreut. Es komme jetzt der letzte Song, sagte sie, und dass sie nicht gedenke, Zugaben zu spielen, egal wie euphorisch der Applaus sei. Der Applaus war dann eh nicht so euphorisch.

Ich verließ das Konzert nachdenklich. War die Popmusik früher besser oder lag es an mir, dass ein paar Akkorde und eine Stimme die Weltordnung ins Wanken brachte, wenigstens für drei Minuten? Haben unsere Kinder, wenn sie heute zum Konzert der „Black Pumas“ gehen, Erlebnisse derselben Intensität wie ich, 1990 in der Roten Fabrik, bei Calvin Russell? Der Typ trank während des Konzerts eine Flasche Whiskey, hie und da reichte er die Bottle hinunter zu den Typen in der ersten Reihe, die dort an seinen Lippen hingen. Das weiß ich genau, ich war einer von ihnen.

Wird die Generation, die mit Techno sozialisiert wurde, sentimental, wenn sie an die Raves zurückdenkt, an die sie sich nicht mehr erinnern kann – so wie ich, wenn ich an den letzten, schwankenden Auftritt des Countryalkoholikers Townes Van Zandt denke, bevor er starb? Wird die Hip-Hop-Generation auch noch auf dem Weg ins Altersheim die sexistischen, brutalen Schweinkram-Reime zitieren, in deren Rhythmus ihr Gefühl das Gefühl eingekapselt ist, jung und wild und wunderbar zu sein?

In seiner schönen Eloge auf Billie Eilish, die gerade fünf Grammys abgeräumt hat, zitiert Jean-Martin Büttner im „Tagesanzeiger“ den Kulturtheoretiker Diedrich Diedrichsen: Man merke, dass ein neuer Stil angekommen sei, wenn die Alten sagten, es klänge alles Neue gleich. Das sagten sie zum Bigband-Jazz, zum Blues, zum Country, zum Rock ’n’ Roll, zum Pop, zu Heavy Metal, zu Disco, zum Punk, zu Rap und Hip-Hop, zu House und Techno, zur elektronischen Musik, zu den neuen Diven. Büttner: „Dass die Musik totgesagt wird, hört man seit Jahrzehnten. Und hört dann zu, wie sie weiterlebt.“

Eh. Stimmt genau. Trotzdem ging mir die Frage nicht aus dem Sinn, warum so viele meiner Freunde und Bekannten, viele von ihnen selbst Musikerinnen oder im Musikgeschäft tätig, davon überzeugt sind, dass die Popmusik früher besser war. Elementarer. Revolutionärer.

Wann immer ich in diese Diskussion gerate, erzählt irgendwer vom magischen Moment, als er zum ersten Mal „The Clash“ hörte, und wer anderer packt die Luftgitarre aus und spielt „The Star Sprangled Banner“ von Jimi Hendrix. Mein Freund André Heller, der selbst gerade erst ein neues Album mit wunderschönen Songs veröffentlicht hat, beschreibt als seinen musikalischen Urknall den Moment, als Otis Redding „Try A Little Tenderness“ herausbrachte. Von da ist es nicht mehr weit zu den Erweckungserlebnissen, die irgendwer bei John Coltranes „A Love Supreme“ hatte oder bei „Birth Of The Cool“ von Miles Davis.

Mich begann eines zu interessieren: Gibt es über diese persönlichen Befindlichkeiten, juvenilen Prägungen oder biografischen Knotenpunkten eine nachvollziehbare – ich wage es nicht hinzuschreiben: objektive – Wahrheit?

Ich beschloss, der pauschalen Grundstimmung – „Ich glaube, früher war die Popmusik besser“ – zu misstrauen und Fakten zu sammeln. Ich machte mich auf einen langen Weg. Er führte mich durch Konzertsäle und Bibliotheken, in die dunklen Ecken meiner Plattensammlung und in die unendlichen Weiten des digitalen Musikvertriebs.

Am Beispiel Rihanna wurde mir zum ersten Mal klar, wie aktuelle Superstars gemacht werden. Ein A&R Manager namens Evan Rogers entdeckte die fünfzehnjährige Frau, die damals noch Robyn Fenty hieß, auf Barbados. Rogers berichtete später, er habe in ihrem Gesicht ein „unwiderstehliches Verlangen“ gesehen, auf großen Bühnen zu stehen und zu performen.

„Diese Sehnsucht“, schreibt der Journalist John Seabrook in seinem interessanten Buch „The Song Machine –  Inside the Hit Factory“, „ist das, womit sich auch die Fans identifizieren können. Und genau danach suchen die Manager in den Verlagen und Labels, weil sie dieses große Verlangen nicht einfach künstlich produzieren können.“

Alles andere können die Labels nämlich schon künstlich produzieren.

Gemeinsam mit seinem Partner Carl Sturken schrieb Rogers den Titel „Pon de Replay“ für Rihanna, ein gut konfektioniertes Gute Laune-Stück. Das Stück ist nicht weiter erwähnenswert, ausser dass es wahrscheinlich jedem von uns irgendwie bekannt vorkommt. Aber es gewährt einen guten Einblick in den Maschinenraum des aktuellen Popgeschäfts. „Pon de Replay“ kletterte kurzzeitig auf Platz zwei der Billboard-Charts, war aber, wie es „Hit Factory“-Autor Seabrook nennt, „kein Signature-Song“. Ein Signature-Song schreibt die künstlerische Ausrichtung der Interpretin fest, zementiert ihren Stil und kreiert ein einzigartiges künstlerisch-kommerzielles Gesamtpaket.

Zu Rihannas Signature-Song wurde zwei Jahre später „Umbrella“. „Umbrella“ entstand, wie Seabrook detailliert erzählt, als drei Produzenten von „Red Zone Entertainment“ im Studio herumspielten. Einer sortierte Samples, programmierte Rhythmen und experimentierte mit der Hi-Hat, dem charakteristischen Ständerbecken und seinen Chick-Chick-Sounds.

Ein Kollege kam zur Tür herein, hörte ein bisschen zu, setzte sich ans Keyboard und spielte ein paar Figuren auf der Tastatur. Dem dritten kam, als er die Fragmente hörte, das Wort „Umbrella“ in den Sinn, und wenig später war da ein Refrain, der ungefähr soviel Aussagekraft hat wie der Klang der Hi-Hat, aber eben auch so viel Rhythmus:

„Now that it's raining more than ever

Know that we still have each other

You can stand under my umbrella

You can stand under my umbrella, ella, ella, eh, eh, eh

Under my umbrella, ella, ella, eh, eh, eh

Under my umbrella, ella, ella, eh, eh, eh

Under my umbrella, ella, ella, eh, eh, eh, eh, eh, eh“

Die drei Jungs von RedZone Entertainment – Terius „The Dream“ Nash, Christopher „Tricky“ Stewart, Thaddis „Kuk“ Harrell – sind Profis. Sie wussten ziemlich genau, dass der Song funktionieren würde. Damit „Umbrella“ so richtig abhebt und die erhofften Tantiemen einspielt, wollten sich die drei allerdings der Performance eines Superstars versichern. Erste Wahl waren Mary J. Blige oder Britney Spears, Multiplikatorinnen mit der damals höchsten Trefferquote.

Rihanna stand nicht auf der Wunschliste. Sie war noch nicht der Star, der jeden Song zum Hit macht. Aber ihr Team bekam Wind von „Umbrella“ und erarbeitete sich mit einiger Beharrlichkeit die Möglichkeit, das Demo anhören zu dürfen. Alle waren sofort davon überzeugt, dass „Umbrella“ das Material war, auf das Rihanna schon immer gewartet hatte.

Hinter den Kulissen begann ein Ringen um die Ware. Rihannas Team setzte sich durch. Rihanna nahm „Umbrella“ auf. Ihr künstlerischer Mentor, der Rapper und Musikproduzent Jay-Z, steuerte die einleitenden Reime bei, in denen er die Zuhörer auf Rihanna einschwört und ihr schließlich mit großer Pose das Mikrophon überlässt. Der Song setzte sich sofort an die Spitze der Charts, blieb in Großbritannien zehn und in den amerikanischen Billboard-Charts sieben Wochen auf Platz eins. „Umbrella“ hatte sein Versprechen eingelöst. Komponisten und Produzenten verdienten ihre Tantiemen. Rihanna stieg vom Star zum Superstar auf.

Das ist die Wirkungsgeschichte von „Umbrella“. Was ist zum Song selbst zu sagen?

Er bedient sich verschiedener Stilrichtungen, ein bisschen Rhythm’ and Blues, ein bisschen Dance Pop, ein bisschen Hip Hop. Was in Erinnerung bleibt, ist das Echo des titelgebenden „Umbrella“ – ella, ella – , das zwar nervt, aber über dieselben Widerhaken verfügt, mit denen sich auch Stoff wie „Atemlos durch die Nacht“ in unseren Köpfen einnistet. Wenn unser Gehirn sich langweilt, erklärt eine Studie der Universität Kassel, beschäftigt es sich eben damit, Refrains der Sorte „Umbrella“ nicht mehr zu vergessen.

Ella. Ella.

Dann stieß ich auf die Aufnahme des Schweizer Popmusikers Faber, als der im Studio von SRF 3 eine Coverversion von „Umbrella“ einspielt. Faber – dessen provokantes, letztes Album „I fucking love my life“ ich übrigens durchgängig großartig finde – spielt „Umbrella“ nur mit der Gitarre und mit der Attitüde eines alten Bluesmeisters.

Es bewahrheitet sich einmal mehr, dass es völlig egal ist, was ein Popmusiker singt, wenn er es schafft, sich den Song anzueignen, die Worte seiner Interpretation zu unterwerfen. Faber singt „Umbrella“ als Ballade, und würde ich nicht unglücklicherweise den Text kennen, käme ich niemals auf die Idee, dass diese Worte nicht mehr bedeuten sollen als: kauf mich.

Das Phänomen ist bekannt. Viele Songs offenbaren ihr wahres Ich erst, wenn sie vom Gewicht ihrer Produktion befreit sind und zu Gitarre oder Klavier gesungen werden. Ich liebe zum Beispiel Madonnas „Like A Prayer“ in der akustischen Version John Wesley Hardings oder Bowies „Let’s Dance“ in jener von M. Ward. Auch Nirvanas „Smells Like Teen Spirit“ sollte man einmal als Ballade von Tori Amos zum Klavier gehört haben.

Faber entkleidet „Umbrella“. Er streift alles von dem Song ab, was beim Prozess der Komposition wichtig, nein, ursächlich war, die Beats, das Chik-Chik der Hi-Hat, die Sounds der Keyboards, den Hall auf der Stimme Rihannas. Faber untersucht, was netto von „Umbrella“ übrig bleibt. Ergebnis: Genug für einen zeitlosen Song, der uns vielleicht an irgendwas aus dem Radio erinnert, aber unerklärlicherweise unsere Seele streift. Der alte Van Morrison – Großmeister in der Kunst, ein und denselben Song seit fünfzig Jahren so zu spielen, dass wir ihm gerne dabei zuhören – hat einen Code dafür geprägt: „Three Chords And The Truth“.

Jonathan Seebrook nennt die aktuelle Popmusik pointiert „Robopop“. Tatsächlich verbirgt sich in der technischen Revolution der Aufnahme-  und Produktionstechnik ein elementares Problem: ein Übermaß an Perfektion.

Das ist jedenfalls die kühle Bestandsaufnahme des Musikproduzenten Brian Eno, der sich in seiner langen Karriere um Bands wie Roxy Music, David Bowie oder die Talking Heads verdient gemacht hat, bevor er an seinen Computern eine neue Musikrichtung namens Ambient Music erfand. Man kann Eno sicher keine Technikfeindlichkeit vorwerfen, wenn er auf der Website „Open Culture“ die Folgen der Digitalisierung für die Musikproduktion kritisiert.

Im Gegenteil. Eno begrüßt grundsätzlich die Tatsache, dass selbst Produzenten, die keine Ausbildung als Musiker haben, durch moderne Technik in der Lage sind, Hits en masse rauszuschießen. Er sieht etwas Demokratisches darin, wenn talentierte Musiker nicht viel mehr als ihren Laptop brauchen, um Musik aufzunehmen und digital so auszustatten, wie das vor ein paar Jahren nur in großen Studios möglich war.

Enos wichtigster Einwand ist, dass der Computer keine Fehler macht, dass Produzenten, Musiker und Toningenieure „jede raue Kante abschleifen und jeden Fehler ausbessern, selbst in Aufnahmen, wo echte Menschen altmodische, analoge Instrumente spielen.“ Den Grund dafür sieht er in der simplen Tatsache, dass es geht. „Wenn ein Drummer jeden Schlag richtig setzen und ein Sänger jeden Ton perfekt treffen kann – warum sollten sie dann nicht?“

Eno beantwortet seine rhetorische Frage selbst: Weil die automatische Fehlerkorrektur jeden Song „homogenisiert“. Wenn jeder Takt gleich klinge, gebe es im Stück plötzlich „kein Anzeichen menschlichen Lebens mehr“.

Daraus leitet Eno völlig zu Recht ab, dass Perfektion kein Ziel musikalischer Bemühungen sein kann. Seine fast schon metaphysische Strategie lautet: „Ehre deine Fehler als versteckte Inspiration.“ Tatsächlich gibt es zahllose große Songs der Popgeschichte – im interessanten Thread „What famous songs have mistakes/studio glitches in the final recording?“ auf reddit.com wurden hunderte minutiös aufgelistet – , deren Fehler Bestandteile, wenn nicht sogar Schlüsselmomente der Interpretation wurden.

Ich hörte mir, wie auf Reddit empfohlen, zum Beispiel „Mack the Knife“ von Ella Fitzgerald an. Es ist die Live-Version von 1960, auf der sie eine ganze Strophe vergisst. Dafür steigert sie sich improvisierend in einen so überwältigenden Swing hinein, dass die Aufnahme seither völlig zu Recht als „defitiniv“ gilt.

Ich genoss auch – nächster Hörbefehl – das Rolling Stones-Album „Exile on Main St.“, dieses scheppernde, aus allen Nähten platzende Stück Popgeschichte. Ich musste grinsen, als ich mir dabei das Gesicht des Toningenieurs vorstellte, der „Umbrella“ aufgenommen hat. Wahrscheinlich könnte er mit seinem Equipment dafür sorgen, dass der Lärm langsam zurückgefahren wird, dass Mick Jagger jeden Ton trifft, dass jeder Takt gleich klingt – dass jedes Anzeichen menschlichen Lebens verschwindet.

David Byrne hat einen treffenden Ausdruck dafür geprägt: „Zombiemusik“.

Dabei sind wir schon wieder einen Schritt weiter und treten in die Epoche der Post-Zombiemusik ein. Die Musikerin Grimes, die mit ihrem Lebenspartner, dem Tesla-Gründer Elon Musk, das Interesse an modernster Technik teilt, entwarf in einem Interview ein Szenario der Popmusik, gegen das die perfektionistischen Produktionsbedingungen aktueller Studios ziemlich Old-School-mäßig wirken. Live-Konzerte würden demnächst überflüssig sein, sagte Grimes dem „Future Magazine“, die musikalischen Herausforderungen der Zukunft seien bei künstlichen Intelligenzen viel besser aufgehoben.

Tatsächlich haben musizierende Forscher wie David Cope schon längst Programme entwickelt, die so brillant im Stil von Bach, Mozart oder anderen Klassikern komponieren, dass es selbst Fachleuten schwer fällt, zwischen Original und computergeneriertem Content zu unterscheiden. Weil es gerade so gut zum Beethoven-Jubiläum passt – 2020 wird der 250. Geburtstag des Giganten gefeiert –, wurde dessen X. Symphonie, zu der nur wenige Skizzen existieren, auf Betreiben der Deutschen Telekom von einem Team aus Musikern, Musikwissenschaftern und Spezialisten für Künstliche Intelligenz (KI) vollendet: Am 28. April soll die „Zehnte Beethoven“ vom Beethoven-Orchester in Bonn uraufgeführt werden.

Was aber werden wir in Bonn hören? „Einen coolen Dialog zwischen Mensch und Maschine“, wie es Stephan Baumann, Musik- und KI-Forscher am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz nennt? Oder doch Zombiemusik?

Der Musikintendant und Philosoph Thomas Edlinger zitiert in seinem Aufsatz „Don’t do it yourself - Pop und künstliche Intelligenz“ die Musikerin, Komponistin und Klangkünstlerin Holly Herndon, die sich nicht mehr für „independent music“ stark macht, sondern für „interdependent music“. Sie steuert, so Edlinger, „die Verschwesterung von Chor und KI, Körper und Kilobytes“ an.  Herndons Musik – das Video zum Song „Eternal“ ist eine faszinierende Einführung in ihre eigenwillige, „interdependente“ Auffassung von Popmusik – besteht oft aus einander überlagernden, meistens mit der Programmiersprache Max/MSP hergestellen Stimmen. Eine Art Kreativitätscode soll Maschinen zu Schöpfern künstlerischer Ergebnisse machen.

Darin offenbart sich, wie Edlinger meint, nicht nur eine zeitgemäße Nähe zu Netzwerktheorien, sondern auch „eine Kränkung. Wir sind nicht mehr das, was wir einmal zu sein glaubten oder sein wollten. Wir sind nie allein auf dieser Welt gewesen und müssen erklären, was und warum ein ,Wir’ ist, das sich von einem ,Ihr’ unterscheidet. Das gilt für mehr als die Identitätspolitik im üblichen Sinn. Die Unterschiede zwischen Mensch, Technik und Natur werden in der ,Technosphäre’ des Anthropozäns problematisch.“

Vielleicht sind ja die glatten, fehlerausbügelnden Musiksoftwares der großen Labels nur eine Übergangsstation, und im Hintergrund arbeitet die nächste Generation von musikaffinen Programmieren daran, den Künstlichen Intelligenzen „Störungen und Gestörtheiten“ anzutrainieren, wie Edlinger fantasiert: „Sounds, die nach Depression oder Liebe klingen. Stimmungen, die man ansteuern kann: heute bitte Prozac um vier Uhr am Klo im Club, morgen Todesangst einer 85-jährigen Ex-Punkmusikerin, übermorgen Nick Cave am zehnten Todestag seines Sohns. Trial and Error. Und ja: Beethoven wird vielleicht noch eine Elfte Symphonie geschrieben haben, die von einer KI in Holly Herndons Computernetzwerk wachgeküsst worden sein wird.“

Musik, das sind für mich nicht die Geräusche, die aus versteckten Lautsprechern den öffentlichen Raum mit Zombiemusik fluten. Musik, wie ich sie meine – Musik für den strukturkonservativen Trottel – erzählt mir etwas über die Zeit, in der ich lebe. Sie fordert mich, sie ringt mir mit ihren Mitteln Emotionen ab, macht die Gefühle von Künstlerinnen und Künstlern nachvollziehbar und lässt mich an ihnen Anteil haben.

Keine Kunstform übersetzt Emotionen so unmittelbar wie Musik. Mit größter Direktheit vermittelt sie tiefe Gefühle, Glück, Wut, Trauer, Liebe  – auch wenn schon Leopold Mozart seinen Sohn Wolfgang dazu anhielt, er möge „das sogenannte populare“ nicht vergessen: „Ich empfehle dir bey deiner Arbeit nicht einzig und allein das musikalische, sondern auch für das ohnmusikalische Publikum zu denken – du weist es sind 100 ohnwissende gegen 10 wahre Kenner, vergiß also das so genannte populare nicht, das auch die langen Ohren kitzelt.“ ((Aus: Von  Mozart zu Von Mozart zu Madonna: Eine Kulturgeschichte der Popmusik (suhrkamp taschenbuch; darauf kann ich leider derzeit nicht zugreifen, das ist digital nicht erhältlich; ich versuche, dass meine Frau die Stelle raussucht und fotografiert))

Da ich längst mit langen Ohren im Gefängnis der Playlists lebe, die mir Spotify und Apple Music zuordnen und in denen mir nur Neuheiten und Entdeckungen zugemutet werden, bei denen die Wahrscheinlichkeit datenmäßig abgesichert ist, dass ich sie mögen werde, habe ich mich für diesen Artikel von diesen, zugegeben sehr bequemen Fesseln befreit. Ich scrollte durch die Jahresbestenlisten von Mainstream- und Fachmedien, hörte mir Zeug an, von dem ich noch nie gehört hatte, das aber auf YouTube bereits zwölf Millionen Mal angeklickt worden ist – das erschreckende Ergebnis dessen, wie kulturelle Echokammern funktionieren —, und besorgte mir zu allen Songs und Alben, die mir gefielen, spezifische Informationen.

Mir fiel auf, welchen Einfluss die Namen, Daten und Fakten, wie sie traditionell auf den Umschlägen von Schallplatten und CDs mitgeliefert wurden, auf die Rezeption der Musik haben. David Byrne hat uneingeschränkt recht, wenn er sich darüber beschwert, dass der digitale Musikvertrieb die Musik, die mehr oder weniger unerklärt zum Endkunden geliefert wird, um wichtige Nuancen beraubt: „Musik ist nicht bloß ein Haufen isolierter Soundfiles. Musik ist ein ganzes Bündel aus Verbindungen, das mit vielen anderen Erfahrungen und Ereignissen in unserem Leben eng verwoben ist.“ ((Da gilt das gleiche wie oben: Die Stelle liefere ich noch nach))

Zum Beispiel offenbart die Entstehungsgeschichte des epochalen Albums „A Seat At The Table“ von Solange Knowles, der jüngeren Schwester von Beyoncé, wie die Möglichkeit moderner Aufnahmetechnik sich mit dem Suchen des künstlerischen Geistes verschränken können. Es ist eine fast endlose, packende Geschichte von Panikattacken, überzogenen Ansprüchen, finanziellen Durststrecken, aberwitzigen Kollaborationen mit Musikern am anderen Ende des Kontinents, Verwerfungen, Experimenten und schließlich dem entscheidenden, langem Atem der Künstlerin Solange.

„A Seat In The Table“ ist am Ende dieser künstlerischen Abenteuergeschichte zur gelungenen künstlerischen Vermessung afroamerikanischen Lebens und Schaffens in Amerika geworden – dem übrigens auch „das so genannte populare“ nicht fehlt. Das gilt genauso für das deutlich hermetischere Nachfolgealbum „When I get home“, eines meiner Highlights des vergangenen Jahres.

Ich hörte mich durch hunderte neue Songs und Alben. Einige davon fügte ich zu meiner Musikbibliothek hinzu. Vielleicht hat das ja einen pädagogischen Einfluss auf den Algorithmus, der sich um meinen Musikgeschmack kümmert.

Natürlich schwang immer die Frage mit, die am Anfang dieser Expedition stand: War die Popmusik früher besser? Und wenn ja, was höre ich hier gerade?

Antwort: Viele der herausragenden Alben führen musikalische Traditionen fort, die seit zehn, zwanzig, fünfzig Jahren ihre Gültigkeit haben. Sie fallen für mich gar nicht unter den Begriff „aktuelle“ Popmusik.

Nur ein paar Beispiele aus jüngerer und jüngster Produktion:

„Drift Code“ von Rustin Man nimmt die Fäden der depressiven Psychodelic-Songwriter aus den Siebzigerjahren auf und hüllt sie in die Klänge von Eighties-Synthesizern. „My Finest Work Yet“ von Andrew Bird ist zeitloser, ätherischer Folkpop ohne jede Anbindung an sein Erscheinungsjahr. Die Singer-Songwriterin King Princess ist zwar eine Ikone der aktuellen lesbisch-queeren Kultur, die sich aber nur in ihren Videos offenbart; die Songs auf dem empfehlenswerten Album „Cheap Queen“ haben ihre Wurzeln im Glamrock von T.Rex und der Verführungskunst von Lana del Rey.

Lizzo fügt auf „Cuz I Love You“ eindrucksvoll und fetzig die Welten von R&B, Soul und Gospel zusammen. Das hauchzarte Album „Atlanta Millionaires Club“ von Faye Webster ist reinster Rythm and Blues südlicher Spielart, verkleidet mit den Countryklängen einer Pedal-Steel (und einzelnen Hip-Hop-Passagen als Störer). Die beiden Alben „Two Hands“ und „U.F.O.F.“ von The Big Thief schreiben große Americana-Traditionen fort. „Inferno“ von Robert Forster klingt wie eh und je (und ist trotzdem sein bestes Album seit „The Evangelist“).

Schon triumphiert der strukturkonservative Trottel in mir: Siehst du, alles schon da gewesen, Frage beantwortet. Ja, früher war die Popmusik besser. Klare Sache. Kein Zweifel.

Aber dann höre ich das Klang- und Produktionskunstwerk „Magdalene“ der britischen Künstlerin FKA twigs mit seiner – Achtung, Interdependenz! – aufregenden Verschmelzung von elektronischen Kompositionsebenen und berückend zarten Melodien, die erst beim vierten, fünften Mal Hören endgültig ihre Schönheit und Ernsthaftigkeit offenbaren.

Das ist neu und großartig, denke ich mir, und widerspricht leider meiner These.

Ich höre „When I Get Home“ von Solange, dieses hypnotische Gesamtkunstwerk, das 19 Songs intelligent und virtuos ineinander übergehen lässt.

Meine These wankt.

Ich höre die explosive Kombination aus Offenherzigkeit, Mut und Bass, wie sie Billie Eilish und ihr Bruder im Homestudio in Los Angeles zusammengebastelt haben. Das fordernde Dröhnen der Basslinie von „Bad Guy“ berührt mich, ich weiß gar nicht wie, es rüttelt an Gewissheiten. Das gesamte Album „When We All Fall Asleep, Where Do We Go“ – der Titel könnte von Fischli Weiss sein, nicht wahr? —  transportiert etwas uneingeschränkt Heutiges, weiß über die eigene Großartigkeit Bescheid und beschränkt sich nicht auf Zitate und Posen.

Es wird bleiben.

Es wird in seiner Urgewalt den konservativen Trotteln von morgen die Frage abringen, ob die Popmusik früher besser war.

Tendenz: wahrscheinlich ja.

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