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Kulinarik

Gemüse aus Fleisch und Blut

Als Yotam pünktlich eintrifft und sich samt einer Flasche italienischen Weißweins an den Tisch setzt, reden wir zuerst einmal über Knoblauch. Ich erzähle ihm, dass mir einer der besten Italiener Zürichs sein Erfolgsrezept verraten hat: er verwende weder Zwiebeln noch Knoblauch, denn seine Businessgäste wollen nachmittags nicht danach riechen.

Yotam sieht mich mich befremdet an. Er schüttelt den Kopf.

„Ich bin sicher, der Herr ist ein guter Koch“, sagt er leise. „Aber das ist lächerlich. So darf man doch nicht über Essen nachdenken.“

Er nimmt einen Schluck von seinem Wein.

„Für mich kommt an erster Stelle der Geschmack. Was der Geschmack für Nebeneffekte hat, ist mir egal.“

Kurze Pause, dann wischt Yotam den Gedanken an den Italiener aus der Schweiz beiseite und besinnt sich aufs Schwärmen: von der Geschmeidigkeit und der Tiefe des Geschmacks, die das Kochen mit Knoblauch ermöglicht.

„In Europa ist das meiste Gemüse, das auf den Tisch kommt, flach. Da ist kein Leben drin, kein Geschmack. Der Grund ist, dass Gemüse viel zu lang gekocht wird, jedenfalls so lange, bis alle Aromen sich verflüchtigt haben. Kaum jemand macht sich die Mühe, dem Gemüse so viel Aufmerksamkeit zu schenken wie Fleisch. Gäbe es mehr Köche, die Gemüse so liebevoll zubereiten wie Lammkoteletts oder Steaks, würden viel mehr Menschen gerne Gemüse essen. Ich koche viel mit Knoblauch, weil Knoblauch Gerichte zum Leben erweckt. Roher Knoblauch gibt Kraft, und wenn du ihn kochst, macht er die Speisen süß, weil im Knoblauch viel Zucker steckt. Wenn Sie also nach meiner Beziehung zum Knoblauch fragen: Ich liebe Knoblauch.“

"Was der Geschmack für Nebeneffekte hat, ist mir egal"
Yotam Ottolenghi

Zum ersten Mal stieß ich vor einigen Jahren auf den Namen Yotam Ottolenghi. Ich blätterte den „Guardian“ durch, meine englische Lieblingszeitung, aus dem Wochenendmagazin des Blattes leuchtete eine Seite sehr rot heraus, Wellen und Schlieren in vielfältigen Farben zwischen hellem Rosa und tiefdunklem Violett. Ich brauchte einen Moment, um das Bild als Aufnahme eines Rote-Bete-Salats zu decodieren, aber das weckte mein Interesse, zumal der Titel der Seite mit anmaßendem Understatement daherkam: „Es ist Rote-Bete-Saison, und Yotam Ottolenghi macht das Beste daraus.“

Foodkolumnen in Zeitungen und Zeitschriften haben eine ähnliche Wirkung wie Pornos. Du kriegst Appetit, weil deine Vorstellungskraft befeuert wird, aber dann stehst du mit einem vagen Hungergefühl da und es bleibt dir nichts anderes übrig, als aus der Vorratskammer einen Keks zu holen.

Dabei erzählte der Autor von erstaunlichen Dingen: Er kocht kleine, frische Rote- Bete-Knollen, bis sie weich sind, dann lässt er sie abkühlen (vorher hat er sie von den langen, rotädrigen Blättern befreit, um diese mit Salz und Kümmel in Olivenöl zu einem Blattgemüse zu sautieren, erstes Aha-Erlebnis).

Dazu macht er aus gelben Paprikaschoten, Koriandersamen, Tomaten, ziemlich viel gepresstem Knoblauch, ziemlich viel eingelegter Zitronenschale, gehackter Petersilie und Korianderblättern ein Relish – ich saß bei der Vorstellung dieser Würzpaste schmatzend über dem Magazin, als ich mir die pure Kraft von Knoblauch und Zitronen vorstellte. Die Idee, diese südliche Kraft mit der fast schon überreifen Süße frischer, gegarter Roter Bete zu kombinieren, begeisterte mich schon platonisch, genauso wie die finale Anweisung, die dünn geschnittenen Knollen und den Relish mit fettem, griechischem Joghurt zu servieren – bitte nicht gleichmäßig durchrühren, schrieb der Autor, sonst kommt der Salat nicht elegant marmoriert daher, sondern pink wie ein Paar Mädchensöckchen.

Genau, dachte ich mir. Genau diese Marmorierung hatte mich ja so angesprochen. Die Farben waren der Hammer, so wie die Vorstellung der kräftigen Geschmäcker und Aromen.

Ich ging in die Vorratskammer und holte mir einen Keks.

Mein erster Kontakt mit dem Ottolenghi-Kosmos. Sein Imbiss in Notting Hill

Ottolenghis Kolumne heißt „The New Vegetarian“. Das ist ein grandioser Titel, eine selbstironische Referenz an den Marketingtrick, altbekannten Phänomenen mit dem Präfix „neu“ den entscheidenden Spin zu geben – der „Guardian“ selbst residiert in dem Quartier von London, wo Tony Blair und Gordon Brown „New Labour“ erfanden – und von der Zeitung ins Amt und wieder hinaus begleitet wurden.

Yotam Ottolenghi kam zufällig zu dieser Kolumne. Sein Restaurant „Ottolenghi“ in der Upper Street, Islington, ist nur ein paar Blocks von der „Guardian“-Redaktion entfernt, und bald nach der Eröffnung gaben sich dort die Redakteure des Blattes die Klinke in die Hand.

Als der Kolumnist des Wochenendmagazins, der sich um vegetarisches Essen gekümmert hatte, ankündigte, die Zeitung zu verlassen, fragte der Food-Redakteur, der praktischerweise gerade beim Essen saß, bei Yotam nach, ob er die Kolumne übernehmen wolle, er koche so interessante Gemüsegerichte.

„Aber ich bin kein Vegetarier“, antwortete Ottolenghi.

„Du sollst auch nicht vegetarisch essen. Du sollst nur vegetarische Rezepte schreiben.“

So startete „The New Vegetarian“.

Das „NOPI“ ist ein schicke, helle Brasserie an der Grenze zwischen Mayfair und Soho. Die Ziegelwand weiß getüncht, die Möbel aus hellem Eichenholz geschreinert. Vor dem breiten Fenster zur Straße ein Tisch im XXL-Format, Helligkeit und große Tische sind wiederkehrende Motiv in den Lokalen Yotam Ottolenghis. Im hinteren Teil des „NOPI“ eine Batterie kleiner Brasserietische, alle besetzt. Eine Bar, wo die Gäste, die auf ihren Timeslot warten, wie Zugvögel hocken und an ihren Drinks nippen. An der Wand ein überdimensionales Gemälde, das einen Turm aus Zitronen zeigt.

Aber irgendetwas am Eindruck des brummenden Restaurants ist anders. Nicht der Pegel des vergnügten Lärms, der ist hoch. Nicht die Kleiderordnung der Gäste, die ist so elegant wie in jedem Businessquartier der Welt. Vielleicht das: das Personal mit den weißen Schürzen serviert die Teller eigenwillig. Sie werden nicht vor den einzelnen Gast platziert, wie das seit der Erfindung des Restaurants üblich ist, sondern in die Mitte des Tisches.

Auf der Speisekarte finde ich rasch die Erklärung. Alle Gerichte, die im neuesten Lokal Yotam Ottolenghis serviert werden, sind „Sharing Plates“, Teller für alle. Die Erklärung steht gleich daneben: Unsere Teller sind zum Teilen angerichtet. Wir empfehlen pro Person drei schmackhafte Teller – „savoury dishes“.

Was Yotam unter „schmackhaft“ versteht, weiß ich inzwischen. Noch nie habe ich ein vegetarisches Kochbuch so lieben gelernt wie „Plenty“, Yotams gesammelte Rezepte aus der „New Vegetarian“-Kolumne, auf deutsch unter dem fragwürdigen Titel „Genussvoll vegetarisch“ erschienen. (Hätte man „Plenty“ noch ein bisschen holzhammermäßiger übersetzen können, damit auch alle kapieren, was von dem Buch zu erwarten ist? In Zeiten, in denen Serien mit dem Titel „Der Bachelor“ im deutschen Fernsehen laufen, wäre „Plenty“ doch zumutbar gewesen, denke ich, so wie es dem englischen Mittagspublikum zuzumuten ist, die Gabel auf die Seite zu legen und mit den Fingern nach der Keule des winzigen Stubenkükens zu greifen und vergnügt daran zu nagen.)

Es waren die ganz normalen Speisen, die mich so für Yotams Kochkunst einnahmen. Zum Beispiel der Kartoffelsalat mit Kräutern und Wachteleiern aus „Plenty“. Dafür kocht man kleine Frühkartoffeln in der Schale und kombiniert sie mit einem Basilikum-Petersilien-Pesto, das mit den frischen Kräutern, Pinienkernen, geriebenem Parmesan und zerdrückten Knoblauchzehen bereitet wird, samt ein paar Streifen Sauerampfer, die dem Gericht zu seiner fruchtigen Deftigkeit eine erstaunliche Frische verleihen – nur beim Schälen der Wachteleier plagte ich mich ein bisschen, aber daran ist nicht das Rezept schuld, sondern meine Feinmotorik.

Eine andere Demonstration von der Fähigkeit Yotam Ottolenghis, klassische Gerichte mit ein paar Handgriffen zu Knallern zu machen, war der marinierte Büffelmilchmozarella mit Tomaten. Der springende Punkt war natürlich die Marinade: sie wird aus gerösteten und im Mörser zerkleinerten Fenchelsamen, der abgeriebenen Schale einer unbehandelten Zitrone, gehacktem Oregano, einer zerdrückten Knoblauchzehe, Salz, Pfeffer, Raps- und Olivenöl hergestellt, mit Basilikumstreifen angereichert und für eine halbe Stunde über den in kleine Bissen gerupften Mozzarella gestrichen.

Als ich diesen mit ein paar bunten Tomaten auf den Tisch stellte: ein Triumph. Nie hatte ich dieses Gericht, das oft so fad wie Flugzeugessen daherkommt, so schmackhaft, so kräftig, so vielschichtig gegessen. Eleganz ist eben nicht nur die Kunst der Zurückhaltung, sondern jene der perfekten Kombination.

Der Mann weiß, wie er Aromen in Szene setzt, dachte ich mir, aber noch bevor ich begann, mir Informationen zur Person zu besorgen, fiel mir auf, dass Yotams Gerichte nicht dem üblichen, vegetarischen Klischee entsprachen. Die meisten vegetarischen Restaurants servieren Pappe mit gedünstetem Gemüse, und in den besseren Restaurants bekommst du mit wenigen Ausnahmen Beilagen ohne Ordnung serviert, wenn du ein vegetarisches Menü bestellst – Ausnahmen bestätigen die Regel. Aber ich kenne keine Ausnahme, die auch nur mit einem kleinen Teil der Entschlossenheit und Wucht auftritt, mit der Yotam Ottolenghi eine vegetarische Küche, aus, jawohl, Fleisch und Blut herstellt.

Yotam ist ein schlanker Mann mit vollendeten Manieren und einem eleganten, fein geschnittenen Gesicht. Er stammt aus Jerusalem, wo er sich als Literatur- und Philosophiestudent unter anderem mit Kunsttheorien beschäftigte, in seiner Magisterarbeit zum Beispiel damit, ob Fotografie Kunst sei oder nicht. Als ihn sein Vater, ein Chemieprofessor, zu einer akademischen Karriere drängen wollte, begann Yotam lieber zu kochen. Er zog zuerst nach Tel Aviv, dann nach London, und wenn es sein Plan war, hier ein Jahr lang das gastronomische Handwerk zu lernen, so ist dieser Plan gründlich schief gegangen.

Denn er ist heute, mehr als zehn Jahre später, immer noch hier. Nach einem Grundkurs an der Kochschule „Cordon Bleu“ traf Yotam in der Backstube der Edelbäckerei „Baker & Spice“ Sami Tamimi, einen Koch, der wie Yotam aus Jerusalem stammte, freilich von der palästinensischen Seite. Sami war genauso alt wie Yotam, und fand die Idee, ein gemeinsames Business hochzuziehen, spannend.

2002 mieteten die beiden einen kleinen Laden in Notting Hill, ein ganz in weiß gehaltenes Take-away, dessen vordere Hälfte mit großen Platten und Schüsseln vollgeräumt ist, auf denen bunte, nach Sommer und Levante duftende Speisen präsentiert werden. Im rückwärtigen Raum, ein paar Stufen tiefer, unter einem Glasdach steht ein großer Tisch, auf dem die Glücklichen, die hier einen Platz bekommen haben, ihre Mahlzeit verzehren können. Die übrigen essen entweder vor dem Lokal im Stehen, oder sie verteilen sich auf Parkbänken rund um die nahe Portobello Road und futtern ihre Gemüsesalate und fantastischen Kuchen aus weißen Papiersäcken.

Es folgten drei weitere Ottolenghi-Locations in Kensington, Belgravia und Islington. In Islington – viktorianisches Portal, im Schaufenster Berge von köstlichen Süßspeisen, zwei kleine Tische auf dem Trottoir – gab es schließlich Restaurantbetrieb, die Kritiken waren gut, und der Geheimtipp stieg zum Geheimtipp-von-dem-schon-ziemlich-viele-wissen auf. Yotam und Sami mussten das Lokal an die Reservierungssoftware anhängen, obwohl ihnen ein Platz, wo man kommt, isst und geht, vorgeschwebt war.

„Ihre Küche ist sehr würzig, sehr orientalisch angehaucht...“

„Ich nenne sie rustikal-elegant.“

„Wo holen Sie sich Ihre Inspirationen?“

„Erstens komme ich aus Jerusalem. In Jerusalem ist bereits eine reife Tomate ein Geschmacksereignis, und ich will, dass mein Essen nach etwas schmeckt. Zweitens reise ich gern und viel. Ich bin immer wieder in Asien unterwegs und esse vor allem auf der Straße. Ich liebe die Direktheit von Garküchen. Wenn ich in Malaysia, Vietnam, Thailand oder der Türkei unterwegs bin, schaue ich sehr genau hin, was in den einfachsten Küchen gekocht wird und welche Zutaten dafür genommen werden. In Asien wird auch das einfachste Essen mit großem Aufwand und Fachwissen zubereitet. Ich habe in Malaysia zugeschaut, wie die verschiedensten Sorten von Sambal zubereitet wurden, mit verschiedenen Peperoni, manchmal kamen Shrimps dazu, manchmal nicht – es ist für die Menschen eine regelrechte Kunst, ein gutes Sambal zu bereiten.“

„Kaufen Sie dann im großen Stil Sambal für Ihre Küchen ein?“

„Nein. Ich hänge zwei, drei Tage an meine Reise an und lerne, wie man Sambal macht. Natürlich kann man jahrelange Erfahrung nicht in so kurzer Zeit aufholen, aber man muss einen Anfang machen.“

„Sie reisen mit dem ,Michelin‘ und suchen sich die besten Lokale aus...“

„Natürlich nicht. Ich gehe zwar auch in schicke Restaurants, aber das Essen ist auf der Straße fast überall besser, jedenfalls außerhalb Europas.“

„Haben Sie den absoluten Geschmack? Können Sie ein beliebiges Gericht in seine Bestandteile zerlegen, ohne nach dem Rezept zu fragen?“

„Das kommt auf die Zutaten an, denn manchmal kenne ich gewisse Kräuter oder Gemüsesorten einfach nicht. Wir arbeiten hier viel mit Minze, Oregano und Koriander, in Vietnam gibt es fünfmal so viele Kräuter, und du kannst nicht einfach in den Asia-Shop gehen und sie alle bestellen. Du musst deine Erfahrungen also anpassen und umsetzbar machen.“

„Ihre Rezepte sind also Ergebnis eigener Recherchen...“

„Manche, ja. Aber ich habe inzwischen Köche aus aller Welt in meinen Restaurants, die bringen enorm viel Talent und Engagement mit – und natürlich konkrete Rezepte.“

„Wenn Sie in Ihrer Küche Rezepte aus aller Welt umsetzen, woher bekommen Sie die Zutaten?“

„Dafür ist man in London am richtigen Platz. Hier leben so viele Minderheiten, die sich aus ihrer Heimat perfekt versorgen lassen. Inder und Pakistani sowieso, aber auch viele Thai, Süd- und Ostasiaten, Menschen aus dem mittleren Osten, Libanesen, Palästinenser. Viele von ihnen leben sehr traditionell. Sie kochen ihr eigenes Essen. Essen repräsentiert ihre durch Jahrhunderte gewachsene Kultur. Das heißt: die wichtigen Zutaten, die Gewürze, Kräuter und Gemüse, sind hier in London, in bester Qualität, und ich kann damit herumspielen.“

"Ich sehe meine Aufgabe darin, gutes Essen zu kochen."
Yotam Ottolenghi

Die Kolumne im „Guardian“ machte Yotam Ottolenghi binnen kürzester Zeit berühmt. Seine bunte, laute Gemüseküche unterschied sich diametral von allem, was man bis dato mit vegetarischer Küche verbunden hatte: fahle Eintöpfe, verkochtes Gemüse, hilflose Versuche, mit Tofu und anderen Ersatzstoffen die Fleischküche nachzuahmen. Wenn vegetarische Küche bisher zu den Gesängen des Buckelwals gekocht worden war, dann steckte Yotam das Kabel ein und ließ es krachen.

Yotams „neuer Vegetarismus“ traf den Nerv eines aufkeimenden Trends. Die Lebensmittelindustrie wurde immer heftiger hinterfragt. Filme wie Robert Kenners „Food Inc.“ oder Erwin Wagenhofers „We Feed the World“ lockten Hunderttausende in die Kinos, um sie über die ernüchternden Mechanismen der Nahrungsmittelherstellung aufzuklären. Spätestens als Jonathan Safran Foer seine Bußpredigt „Tiere essen“ herausbrachte, wurde der Vegetarismus zum Gegenstand einer breiten, ethisch, politisch und ökonomisch befeuerten Diskussion: ist es zu verantworten, dass die Landwirtschaft auf Hochtouren laufen muss, nur um die Tiere zu ernähren, die wir essen wollen – ganz abgesehen von Klimawandel, den Problemen der Massentierhaltung, den im Verborgenen stattfindenden Praktiken der Fleischindustrie und den explodierenden Gesundheitskosten für fettleibige Bevölkerungen.

„The New Vegetarian“ zeigte vielen eine brauchbare, vergnügliche Alternative zu der Selbstverständlichkeit, täglich Fleisch zu essen. Wenn die Entscheidung, auf Fleisch zu verzichten, ein Statement sein sollte, dann sorgte Yotam dafür, dass dieser Verzicht auch Spaß machte.

Das erste Kochbuch „Ottolenghi“, von dem es bis jetzt keine deutsche Übersetzung gibt, verkaufte gut, das zweite, „Plenty“war ein Renner, auf der Bestsellerliste zwischen Jamie Oliver und Stieg Larsson platziert. Aber der Erfolg sorgte auch für Enttäuschungen.

Regelmäßig kamen Menschen in eines der Ottolenghi-Lokale, manche mit dem Buch unter dem Arm, um sich von Yotam eine Widmung abzuholen. Sie standen andächtig vor den weiten Schalen mit Broccolisalat und Sesamdressing oder Tomaten-Brot-Salat mit Quinoa, aber dann zuckten sie zusammen: was war denn das auf der großen, weißen Porzellanplatte, kräftig mit grob geschrotetem Pfeffer bestreut und mit goldenem Olivenöl beträufelt? War das etwa Fleisch? Ein böses Rinderfilet?

„Manche Leute drehten sich einfach um und gingen wieder“, sagt Yotam. „Sie waren enttäuscht.“

„Wie erklären Sie enttäuschten Besuchern, dass Sie auch Fleisch servieren?“

„Ich sage, dass ich es großartig finde, Gemüse zu kochen. Aber dass ich niemals in einen Klub eingetreten bin, der dogmatisch den Genuss von Fleisch oder Fisch verbietet. Viele Vegetarier sind in diesem Club, politisch motiviert und sehr gut über die Zusammenhänge der Lebensmittelerzeugung informiert. Sie halten es für unanständig, Fleisch zu essen.“

„Wie sehen Sie das?“

„Ich sehe meine Aufgabe darin, gutes Essen zu kochen.“

„Ist das nicht eine Ausrede?“

„Nein. Es wäre sehr gut für die vegetarische Sache, wenn sie den Fleischkonsum nicht bedingungslos ablehnen würde. Denn dadurch verliert sie viele Menschen, die eigentlich mit vegetarischem Essen sympathisieren, aber nicht ausschließlich Gemüse essen wollen. Ich denke, wie so oft ist es gut, tolerant zu sein. Viel Gemüse essen, aber hie und da auch ein Stück Fleisch erlauben, wie in den alten Zeiten, als nur am Sonntag der Braten auf den Tisch kam.“

„Führen Sie diese Toleranzdiskussion noch oft?“

„Nicht mehr so oft. Inzwischen wissen die meisten Leute, die zu mir kommen, Bescheid.“

Um die Ecke von Yotams „NOPI“ hat Paul McCartney sein Büro, der sich immer, wenn er Leute empfängt, von Yotam beliefern lässt. Yotam unterstützt den „Meat Free Monday“, die Initiative des früheren Beatle, wenigstens einmal pro Woche auf Fleisch zu verzichten. Aber mir stellt er gleich mehrere Teller mit Fleisch auf den Tisch, ein saftiges, kompaktes Küken – „Sie müssen es mit den Fingern essen, das Fleisch zuerst in die Sauce tauchen“ – die Sauce ist rot, kräftig und scharf –, „dann in dieses Salz“ – Zitronenmyrtensalz, ein Kraut, das es in Australien gibt und dass über den Zitronengeschmack hinaus ein interessantes Aroma nach Garrigue, kleinen Hartlaubgewächsen, mitbringt – „dann in den Mund“ – Yotam schaut genau, ob ich es richtig mache, und er beobachtet, bis ich gekaut, geschluckt und zu strahlen begonnen habe. Fantastischer Bissen.

Ich probiere von der Artischocke mit Emmer, Saubohnen und Ziegenkäse, eine Fülle an bitteren und süßen Aromen, eine Zelebration von Konsistenzen. Jeder Bissen präsentiert sich ein bisschen anders, je nachdem, welche Konsistenz gerade in den Vordergrund tritt.

Gegrillter Spargel mit einer aus Chili, Brot, Nüssen, Mandeln, Knoblauch, Tomaten und Öl gefertigten Romesco-Sauce, ein Kraftakt. Gegrillter Oktopus mit Salmorejo-Sauce, der Tintenfisch außen knusprig und innen zart, begleitet von dem pikanten Aromen der Sauce – Geschmäcker wie im Stroboskop, eine eklektizistische Party. Die Wachtel mit Miso, Honig, Weintrauben und Verjus – Referenz an die japanische, aber auch an die südfranzösische Art zu kochen. Viele Fäden führen in die Küche, und bei Yotam laufen sie alle zusammen, denn er sorgt dafür, dass aus den unzähligen Einflüssen etwas Originäres und Harmonisches entsteht.

„Können Sie noch?“ fragt Yotam.

Ich kann nicht mehr.

„Klar“, sage ich.

Das ist auch gut, denn sonst hätte ich die Tomaten mit dem Wasabi-Mascarpone versäumt und die Meerbrasse mit der sauer eingelegten Pomelo-Frucht und dem Tamarinden-Relish und natürlich die Desserts, denn wer fahrlässigerweise den Kardamom-Reispudding mit Rosensirup nicht probiert hat, muss allein deshalb noch einmal nach London reisen.

Inzwischen hat sich das „NOPI“ geleert, und Yotam muss aufbrechen, um seine tägliche Runde zu allen fünf Lokalen zu Ende zu bringen.

„Gehen Sie manchmal zu dem Italiener, der ohne Knoblauch kocht?“ fragt er mich, als wir uns verabschieden.

„Hie und da“, antworte ich.

„Können Sie ihm ausrichten, dass man sich nach dem Essen die Zähne putzen kann? Dann muss man nicht auf den Geschmack im Essen verzichten.“

Wird gemacht.

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