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Gesellschaft

Frisch von der Leber weg – Über die Mythen des Trinkens

Frisch von der Leber: Leslie Jamison erzählt in ihrem neuen Buch vom Rausch, seinem Versprechen und der Wirklichkeit.

Der Rausch, sein Versprechen und die Wirklichkeit begründen eine dämonische Architektur. In ihrem fulminanten Essay „Verteidigung des Süßlichen“ beschreibt die amerikanische Autorin Leslie Jamison, 35, ihr Elternhaus, das statt Wänden Fenster hatte. Wenn sie an langen Sommerabenden auf der Terrasse saß, konnte sie dabei zusehen, wie immer wieder Blauhäher gegen die Scheiben flogen und auf den Boden plumpsten.

„Ich sagte zu meiner Mutter, dass die Vögel unsere Fenster mit dem Himmel verwechselten. Sie nahm mich bei der Hand und zeigte mir einen Busch, der direkt neben unserer Eingangstür wuchs. Sie erklärte mir, dass die Beeren dieses Busches die Vögel betrunken machten. Die Beeren waren orange wie Rostflecken und voller Zucker. Meine Mutter sagte, die Vögel könnten es nicht lassen, davon zu essen. Und dann würde ihnen schummrig. Deswegen flogen sie gegen unsere Fensterscheiben.

Von Gärungsprozessen hatte ich damals keine Ahnung, aber das Süße und seine schändliche Verführungskraft waren mir ein Begriff. Schon als Kind wusste ich etwas über diese Vögel: Der gläserne Himmel war glatter und härter, als sie dachten, und dahinter konnten sie eine Welt sehen, die er ihnen versperrte.“

Das ist ein starkes, ein sakrales Bild, und es lädt dazu ein, darin nicht nur die stürzenden Blauhäher aus Los Angeles zu sehen, wo Leslie Jamison aufwuchs, sondern die Autorin selbst, jedenfalls nach der Lektüre ihres autobiographischen Epos „The Recovering“*, das im Herbst unter dem Titel „Die Klarheit. Alkohol, Rausch und die Geschichten der Genesung“ auf Deutsch erscheinen wird**.

„The Recovering“ ist ein bestürzendes Buch. Leslie Jamison erzählt darin die Geschichte ihrer Alkoholabhängigkeit. Obwohl sie als junge Literaturstudentin in Harvard begonnen hatte, Fiction zu schreiben, versteckt sie ihre üGeschichte nicht hinter einer literarischen Figur, wie es zum Beispiel Jack London in „König Alkohol“ tut, dem vielleicht berühmtesten Trinkerroman der amerikanischen Literatur. London überlässt es seiner Hauptfigur John Barleycorn, mit quälender Intensität die Euphorien und Abgründe des Alkoholismus auszuloten. London selbst hingegen winkt ab: Alles unter Kontrolle. Natürlich trinkt der Autor, aber weil er es fertigbringt, erst zur Flasche zu greifen, nachdem er seine täglichen tausend Worte geschrieben hat, hält er sich „vollständig“ für den „Meister von John Barleycorn“. 

Die zweifelhafte Selbstdiagnose ist eher der Beweis für ihr Gegenteil. Sie stammt aus einer Zeit, als das Leugnen des Problems noch nicht als ein bestimmendes Symptom von Alkoholabhängigkeit galt. In Wahrheit kämpfte Jack London Zeit seines kurzen Lebens – er starb mit vierzig – mit dem Alkohol und erkannte, wie der Psychotherapeut Gary Greenberg im „New Yorker“ beschreibt, das unkontrollierbare Bedürfnis nach Alkohol als moralisches Problem, nämlich als Pervertierung des freien Willens zum Tyrannen. 

Leslie Jamison braucht für Geschichte dieser Tyrannei kein bisschen Schminke in Form literarischer Verfremdung. Sie erzählt, wie sie im Alter von 13 Jahren bei der Abschlussparty ihres Bruders Gefallen am Trinken fand: „Ich musste nicht kotzen, hatte kein Blackout und machte nicht einmal etwas Peinliches. Ich mochte es einfach“. 

Sie beschreibt das feine Prickeln des Champagners in ihrer Kehle als eine Art Erweckungserlebnis und fragt sich erstaunt:

„Warum hat mir niemand gesagt, dass das so gut ist?“
Leslie Jamison

Mit 15 trinkt sie zum ersten Mal heimlich. Sie hat betrunken den ersten Sex, sie kotzt, weil sie zu viel trinkt, sie hat Blackouts, kann sich nicht mehr erinnern, wo sie war, mit wem, was sie getan hat. Wenn sie heute den genauen Zeitpunkt benennen soll, an dem das mit dem Trinken so richtig begann, zuckt sie mit den Schultern und sagt: Vielleicht, als ich zum ersten Mal kotzte. Vielleicht beim ersten Blackout. Vielleicht, als ich zum ersten Mal ein Blackout haben wollte. Vielleicht als mir der Alkohol als Mittel recht war, mich wenigstens für einige Zeit vom eigenen Leben zu verabschieden. Vielleicht, als ich zum ersten Mal mit dem Wunsch aufwachte, sofort weiterzutrinken.

Sie trank, aber gleichzeitig war sie Leslie Jamison. Sie war nicht klug, sie war brillant. Sie schloss die High School ab, wurde in Harvard angenommen, studierte dort englische Literatur und ging nach Iowa, um ihren Master in Creative Writing zu machen. In Iowa entwickelte sie ein romantisches Interesse für die Spuren großer Schriftsteller, die gleichzeitig große Trinker gewesen waren. Jamison ging durch die Läden, wo Raymond Carver und John Cheever frühmorgens ihre Vorräte an Schnaps aufgefüllt hatten. Sie besuchte die Bar an der Dubuque Street, wo John Berryman nächtelang Schach gespielt und über Walt Whitman geschimpft hatte. Sie saß im Vine, wo Denis Johnson trank und Storys darüber schrieb, wie er im Vine sitzt und trinkt. Sie trank mit einer Freundin, deren erster Roman ein Flop war, am selben Ort, wo Richard Yates mit Andre Dubus getrunken hatte, weil dessen erster Roman ein Flop gewesen war. 

Die Schatten der Legenden waren lang und luden zum Trinken ein. Jamison nahm jede Einladung an. Sie sammelte Blackouts wie Trophäen, entwickelte eine regelrechte Liturgie der Entschuldigungen und Ausflüchte, aber sie schöpfte aus den Abstürzen, der Scham und den Verletzungen auch Inspiration. So wie sie sich als junge Frau mit der Rasierklinge geritzt hatte, um die Sensation des Schmerzes auszukosten, ließ sie sich im Rausch auf immer dunklere Abenteuer ein. In einer besonders quälenden Episode beschreibt sie eine Nacht, als sie sich von einem Fremden nur deshalb vögeln lässt, weil sie zu besoffen und zu müde ist, ihn wegzuschicken. Aber selbst am Morgen danach ist das Bedürfnis nach erneutem Rausch, nach Flucht, nach Dunkelheit größer als die Scham und der Schmerz.

Die Essaysammlung „Die Empathie-Tests“ erschien 2014 und machte Leslie Jamison berühmt. „Wenn es noch eine Gelehrtenrepublik gibt“, schrieb der Schriftsteller John Jeremiah Sullivan, „dann ist in ihr ein Licht angegangen, als die ersten Essays von Leslie Jamison erschienen. Die Tiefe ihrer Neugierde ist elektrisierend.“

Ich las die Essays mit Bewunderung und voyeuristischem Staunen. Damit meine ich nicht allein Jamisons Preisgabe von Intimitäten, die ihre Geschichten authentisch erden, sondern die intellektuelle Unerschrockenheit, mit der diese Autorin Personal History, klassischen Bildungskanon, verwegenes Denken und die frischeste, von jedem Klischee befreite Sprache in ein eigenes Genre verwandelt. Sie beherrscht das Narrativ des Denkens in Bewegung. Sie nimmt dich bei der Hand, schwört dich auf eine Idee ein, aber sobald du das Gefühl hast, dass dir diese Idee ans Herz gewachsen ist, lässt sie dich irgendwo stehen, und plötzlich hast du Mühe, allein nach Hause zu finden.

„Einfühlung erschöpft sich nicht darin, brav daran zu denken, ‚Es ist sicher nicht einfach für Sie‘ zu sagen“, schreibt sie. „Empathisch zu sein bedeutet nicht nur zuzuhören, sondern auch, überhaupt erst die Fragen zu stellen, die dann Antworten hervorbringen, denen man zuhören muss.“ 

Angenehme Fragen stellt Jamison nie, und die Antworten sind oft genug verstörend. Aber die Verstörung ist das Prinzip, das sich über das Konventionelle hinwegsetzt, und in diesem Sinn lernte ich Leslie Jamison als Meisterin des unkonventionellen Denkens kennen, und ich war so elektrisiert wie John Jeremiah Sullivan von der Vorstellung, dass sich eine tabubrechende Intellektuelle einem bestimmenden Thema unserer Zeit widmet – der Abhängigkeit und wie man sich von ihr lösen kann. 

2014 hatte der deutsche Journalist Daniel Schreiber ein schmales Buch über „Das Trinken und das Glück“ veröffentlicht, in dem er die schmale Grenze zwischen Genuss und Sucht, zwischen individueller Euphorie und der Intoxikation als historische Konstante beschrieb. An Schreibers Buch gefielen mir die klug beobachteten Symptome der Verführung und die Ehrlichkeit, mit der er sich eingestand, wie verwandt Euphorie und Selbstbetrug sind, so dass Alkoholiker weder kaputt aussehen noch morgens trinken müssen:

„Sie sind Menschen, die früher einmal tatsächlich Spaß hatten, wenn sie tranken. Sie sind Menschen, die in klaren Momenten realisieren, dass irgendetwas Unerfindliches in ihrem Leben aus dem Ruder läuft, und die gegen diese Erkenntnis antrinken.“

Bei Leslie Jamison verwandeln sich diese subtilen Geister in ein Monsterkabinett. Das Trinken ist bei Jamison nichts als: Wirkung. Es ist ihr scheißegal, was sie trinkt. Sie bevorzugt Schnaps und Cocktails, weil sie davon schneller betrunken wird. Aber wenn sie ihre Wohnung nicht verlassen will, trinkt sie zur Not auch warmen Chardonnay, bis sich die ersehnte Wirkung einstellt.

Trinken bedeutet bei Jamison besinnungslosen Rausch und Verheerung. Also kann die Heilung, das Zurückgewinnen der seelischen Autonomie, nur über den völligen Verzicht auf das Trinken erreicht werden, durch Abbitte, durch Läuterung. Jamison unternimmt zwar mehrere Versuche, ihr Trinkverhalten auf ein erträgliches Maß zu reduzieren. Aber sie fällt regelmäßig in die exzessiven Muster zurück, bis sie sich der Hilfe der dritten großen Macht dieses Buches vergewissert, die neben trinkenden Literaten und König Alkohol auftritt: des Kollektivs der Anonymen Alkoholiker (AA), einer 1935 in den USA gegründeten Selbsthilfeorganisation, die auf der ganzen Welt Niederlassungen unterhält und nach eigenen Angaben etwa zwei Drittel aller Alkoholkranken, die ihre Hilfe suchen, von ihrer Sucht befreit.

Die Gruppensitzungen der Anonymen Alkoholiker sind ein bestimmendes Motiv von „The Recovery“. Ihre ersten Sitzungen beschreibt Leslie Jamison noch mit wacher Distanziertheit. Als sie gebeten wird, ihre Trinkerbiographie im Kreis der zuhörenden Anonymen Alkoholiker auszubreiten – Pfarrheim, Klappstühle, lauwarmer Kaffee in Styroporbechern – kalkuliert sie, die Schriftstellerin, automatisch die Wirkung, die ihre Geschichte haben wird. Sie schüttet ihr Herz aus, bis sie ein alter Mann im Rollstuhl mit einem Zwischenruf unterbricht: „Laangweilig!“

Das ist eine Schlüsselszene für „The Recovery“. Der Zwischenruf verändert die Erzählweise des Buchs radikal. Anfangs ist Jamisons autobiografische Stimme so autonom wie, sagen wir, der unverkennbare Gesang von Cat Power, aus dem gleichzeitig Schönheit, Charakter, Schmerz und Zweifel sprechen. Aber diese Stimme geht mit zunehmender Dauer des Buches im Chor der Geschichten auf, die Jamison bei den Anonymen Alkoholikern einsammelt. Es sind, wie der Mann im Rollstuhl rufen würde, laangweilige Geschichten, aber sie sind wahr, und sie haben eine Funktion. Sie müssen den Choral der Läuterung stützen, individuelle Register in den machtvollen, aber auch auslöschenden Psalm des Kollektivs überführen.

In einem Interview mit der Filmemacherin und Kathy Acker-Biographin Chris Kraus in der „Paris Review“ begründet Leslie Jamison diese Entscheidung. Ihr Buch sei auf gewisse Weise ein Gefecht gegen das Außergewöhnliche, es wehre sich gegen das Diktat des Einzelschicksals. 

„Die Vorstellung, dass eine Geschichte außergewöhnlich sein muss, damit es sich lohnt, sie zu erzählen, klingt befremdlich für mich“, sagt Jamison und Kraus sekundiert mit dem Gedanken, dass diese Idee literarisch ganz neue Möglichkeiten eröffne, „ästhetisch, historisch, existentiell“.

Das stimmt und es stimmt nicht. In „The Recovery“ tragen die anonymen Stimmen vor allem zur Spiritualisierung des Alkoholproblems bei, zur Idee, dass die starke Gemeinschaft der Betroffenen einander durch den Austausch von klischeehaften, laangweiligen, aber eben wahren Geschichten stärken und heilen kann.

Kann sein, dass das eine brauchbare Wahrheit ist, kann sein, dass sie ihre Funktion erfüllt. Für Leslie Jamison hat der Besuch der AA-Gruppen nach mehreren Anläufen die erhoffte Wirkung. Sie ist seit vielen Jahren trocken und besucht noch immer gelegentlich Gruppensitzungen. Sie lebt heute in Brooklyn, unterrichtet an der Columbia University, ist mit dem Schriftsteller Charles Bock verheiratet und vor wenigen Monaten Mutter einer Tochter geworden.

Wie sie die AA-Gemeinschaft beschreibt, grenzt jedoch an religiöse Verklärung. So wie sie im Rausch den Abgrund, den Schmerz, oder passenderweise: die Hölle sieht, erkennt sie in der Gemeinschaft des Verzichts die Erlösung. Unter dem Eindruck der eigenen Passionsgeschichte vernachlässigt sie andere Dimensionen des Alkoholismus wie genetische oder familiäre Dispositionen, obwohl sie in einem Interview erwähnt, dass in ihrer Familie Abhängigkeiten und psychische Krankheiten verbreitet waren. Vor allem aber blendet sie in ihren „Geschichten der Genesung“ andere Zugänge der Behandlung von Alkoholismus, seien sie klinisch, medikamentös oder psychotherapeutisch, aus. Sie übernimmt widerspruchslos die Dogmen der Anonymen Alkoholiker, was den Rezensenten des „Guardian“ zu der schnippischen Bemerkung motiviert, dass dieses Buch in einer Zeit erscheine, in welcher der Rausch, wenn auch nicht klug, so wenigstens manchmal nötig sei. Auch ein anderes Urteil des Kollegen teile ich: Solange alle trinken, ist die Geschichte wesentlich lustiger.

Erst als ich das mehr als 500 Seiten dicke Buch ein zweites Mal las und meine Anmerkungen und Notizen sortierte, fiel mir auf, wie viele Echoräume und versteckte Abzweigungen „The Recovery“ enthält. Die drei wichtigsten Handlungsstränge – Sucht; Genesung; schnapsgetränkte Literaturgeschichte – sind so dicht miteinander verwoben, dass Nebenstränge wie das Beziehungsdrama von Jamison und ihrem langjährigen Partner David Gorin fast unbeachtet bleiben, auch wenn sich gerade an den Scherben des Scheiterns dieser Beziehung alle Qualitäten von Jamisons Prosa entzünden. Ihre Fähigkeit, noch aus dem Augenwinkel mikroskopische Details zu erspähen und ihnen Bedeutung zu verleihen, ist verblüffend. Nicht umsonst trägt Jamison an der Columbia, wo sie Nonfiction Writing unterrichtet, den Beinamen einer „Hohepriesterin der Genauigkeit“. Das verrät sie mit einer raren Geste der Selbstironie der „Paris Review“.

Im selben Gespräch erzählt sie, dass sie von der Fülle und Komplexität ihres Materials zeitweise so überwältigt war, dass sie ganze Räume mit beschriebenen Zetteln auslegen musste, um den Überblick zu bewahren – oder sich zu weiteren Abschweifungen und Recherchen animieren zu lassen.

Dem haltlos assoziativen Denken Jamisons entspringen viele Nebengleise, im Grunde neue Essays unter dem Dach des Generalthemas. Ein Abschnitt feiert die Selbsthilfepioniere des Seneca House, einer säkularen Parellelorganisation zu den AA. Ein Statusbericht über trinkende Schriftstellerinnen ergründet das Verhältnis zu ihren männlichen Kollegen (Jamison: „Eines der wichtigsten Motive für mich, dieses Buch zu schreiben“). Eine philosophisch grundierte Sprachkritik sammelt Argumente dafür, warum die Erzählstimme dieses Buchs mit stressiger Detailverliebtheit anhebt und sich in klischeebehafteten Alltagskonfessionen auflösen muss (Jamison schickte dazu, als eine Art Teufelsaustreibung, in der „New York Times“ den Essay „Why Do We Hate Cliché?“ voran, der das pikierte Hää? Im Ernst? programmatisch auffangen soll).

Der breite Hauptstrom der Erzählung aber schiebt sich unaufhaltsam auf die Frage zu, welche Wirkung die Abkehr vom Rausch auf die Kreativität des Schriftstellers hat. Jamison durchwühlt Archive, sucht „wie mit dem Metalldetektor“ nach Hinweisen, dass nüchterne Klarheit ein Werk mindestens so stark prägen kann wie rauschhafter Exzess, und natürlich ist das ein Akt der Selbstbeschwörung.

Bei David Foster Wallace erkennt sie sich einmal selbst. Sein Buch „Unendlicher Spaß“ liest Jamison als eine Abfolge von AA-Meetings, deren Teilnehmer versuchen, die große Nüchternheit irgendwie auszutricksen, ohne auf die Rituale der Zusammenkünfte verzichten zu können: Das bin doch ich… Sie zitiert sogar Wallaces Diagnose, dass „ein Ironiker in einem AA-Meeting etwa dasselbe wie eine Hexe in der Kirche“ sei, aber sie schließt sich dem Befund nicht an. Sie ist hyperintelligent, aber Ironie ist nicht ihre Stärke.

Stattdessen erzählt sie die herzzerreissende Geschichte von Foster Wallace, der zum ersten Jahrestag seiner Trockenlegung von seinem AA-Mentor das Buch „Bill W and Dr Bob“ geschenkt bekommt. Irgendwo in dem schmalen Büchlein sagt Dr Bob: „Wenn ich nicht trinke, bin ich ein Monster. Ich brauche das Trinken, um zu funktionieren, um ein Arzt zu sein, ein Ehemann, ein Vater. Ohne Trinken habe ich Angst, gar nicht zu funktionieren. Das Trinken ist der Stoff, der mich zusammenhält, das einzige, worauf ich mich verlassen kann.“

Daneben hat Wallace mit Bleistift drei Worte gekritzelt: „How I feel“. 

Er bekam es dann auch nicht hin mit der Nüchternheit. 2008 nahm er sich in einer Phase der Depression, nur 46 Jahre alt, das Leben.

Auch der Schriftsteller Charles R. Jackson, dem 1945 mit „Das verlorene Wochenende“ ein Klassiker der Trinkerliteratur gelungen war, suchte Hilfe bei den Anonymen Alkoholikern. Er hörte zwar auf zu trinken, scheiterte aber daran, aus der Perspektive der Nüchternheit ein ebenso kraftvolles Buch zu schreiben wie „The Lost Weekend“. Im Jahr 1975 beging er im New Yorker „Chelsea Hotel“ Selbstmord. „Es war lange her“, schrieb Arthur Miller über Jackson, „seit die Kraft von „The Lost Weekend“ ihm zu einem kurzen Blick vom erstaunlich hohen Kamm der Welle verholfen hatte. Inzwischen trank er nicht mehr und versuchte, geradeaus zu gehen, bis die Linie so schrecklich schmal wurde, dass er es aufgab, und in seinem Bett im Chelsea mit einem Tablettenröhrchen neben sich in einen befreienden Dauerschlaf fiel. Er war die Freundlichkeit in Person – außer zu sich selbst.“

Nüchtern, aber erfüllt von innerer Unruhe, versucht Jamison Fäden zwischen den Biographien trockengelegter Schriftsteller und den Ergebnissen ihres Schreibens zu knüpfen. Sie betreibt weniger „Kritik als Autobiographie“ als „spekulative Autobiographie“ und rechnet die Ergebnisse ihrer Forschung ängstlich auf ihre eigene Kreativität um. Sie sucht, gibt sie freimütig zu, Orientierung, für welche Ergebnisse ihre eigene, nüchterne Kreativität reichen würde.

Bestätigung findet sie ausgerechnet im Werk von Raymond Carver, dessen Spuren sie in Iowa gerade noch zum Flaschencontainer gefolgt war. Carver hörte am 2. Juni 1977 mit dem Trinken auf, und er bekannte in einem Interview mit erschreckender Offenheit:

„Wenn Sie die Wahrheit wissen wollen: Ich bin auf nichts, was ich in meinem Leben getan habe, so stolz wie darauf, dass ich mit dem Trinken aufgehört habe.“

Aber Jamison ist wild entschlossen, in den Storys, die Carver nach dieser Entscheidung geschrieben hat, den Beweis dafür zu entdecken, dass Nüchternheit ein ebenso kraftvoller Treibstoff sein kann wie Alkohol. Sie halluziniert in Carver eine „höhere Macht“ und schreibt seinen Storys aus dem 1980 erschienenen Band „Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden“ ein inneres Leuchten zu, das sie im dunklen, von Carvers Lektor Gordon Lish bis auf die Knochen abgenagten, früheren Werk nicht entdeckt hat. Sie rekonstruiert in den unbearbeiteten Originalfassungen Momente der Hoffnung und der Helligkeit, die sie, sonst messerscharf und unerbittlich, euphemistisch auf Carvers Nüchternheit zurückführt, einer Nüchternheit, die der Autor übrigens regelmässig mit Marihuana oder Koks hinauf- oder hinunter dimmte.

Am Ende des Buches gestattet sich Jamison sogar einen melodramatischen Besuch an Carvers Grab in Port Angeles. Dort hat seine Witwe Tess Gallagher in einer kleinen Metallbox ein Notizbuch bereitgestellt, in dem trauernde Besucher ihre Gedanken festhalten sollen.

„Ich stellte mir das Notizbuch als den Heiligen Gral vor“, schreibt Jamison, „um die Klarheit zur besten Geschichte von allen zu machen: als ein anschwellendes Crescendo derer, die sie verstehen, ein gemeinsames ,Amen’“.

Aber das sentimentale Gästebuch ist gerade erst erneuert worden, und Jamison kann die Botschaft, die sie sich erhofft hat, nirgends entdecken. Sie schreibt dann „Thank you“ auf eine leere Seite und merkt sich, dass der Grabstein voller Vogelscheiße ist.

Die Blauhäher, die gegen die Scheiben von Leslie Jamisons Elternhaus flogen, sahen darin den Himmel und eine Welt, die ihnen versperrt wurde. Den Busch, auf dem die rostroten Beeren wuchsen, von denen die Vögel betrunken wurden, hat Jamison, wenigstens metaphorisch, ausgegraben und auf den Kompost geworfen. Die Gärungsprozesse gehen freilich weiter, und ihre schändliche Verführungskraft ist ungebrochen. 

„Sehnsucht“, schreibt Leslie Jamison, „ist unser machtvollster Antrieb für das Erzählen, und Abhängigkeit ist einer ihrer Dialekte.“ 

Die Welt, die dahinter verborgen ist, glänzt auch im Spiegelbild dieses Buches ziemlich verführerisch.


*Leslie Jamison: The Recovering. Intoxication and it’s aftermath. Little, Brown and Company, 544 Seiten

**Leslie Jamison. Die Klarheit. Alkohol, Rausch und die Geschichten der Genesung. Aus dem Amerikanischen von Kirsten Riesselmann, Hanser Berlin, 608 Seiten

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