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KulinarikReise

Dreisterntage in San Sebastian

Am Schluss, nach einer Mahlzeit, die schon fast vier Stunden gedauert hat, kommt der „etwas andere“ Apfelkuchen, aber ich kann ihn nicht sehen. Der mutmaßliche Kuchen ist in ein mit dem Logo des Restaurants bedrucktes Stück Glanzpapier eingeschlagen, und die lächelnde Kellnerin beugt sich zu mir und flüstert: „Das Papier können Sie essen.“

Also esse ich auch das Papier. In den Spitzenrestaurants des Baskenlands gibt es öfter mal Papier.

Im „Mugaritz“, am Abend davor, kam das Papier in einem Kuvert, das mit Siegellack verschlossen war. Als ich das Siegel aufgekriegt hatte, zog ich ein Kärtchen heraus, auf dem „Bread and Olives“ stand. Dann beugte sich auch schon der lächelnde Kellner zu mir und flüsterte: „... können Sie essen.“

Als Papierexperte kann ich nun sagen: bei „Akelaŕe“ schmeckt das Papier weniger nach Papier als bei „Mugaritz“ – aber das ist natürlich nur eine billige Pointe, ein Aufseufzen darüber, was sich Spitzenrestaurants alles einfallen lassen müssen, um ihre Kundschaft gebührend zu unterhalten.

San Sebastián ist überwältigend. Ein eleganter, langgezogener Stadtstrand für die Müßiggänger, ein zweiter, zum Meer geöffneter, für die Surfer. Dazwischen im Schatten der Festung die geometrisch angelegte Altstadt im Belle Epoque-Stil, wo die Türen der Bars weit offen stehen und die Teller, auf denen die Pinxtos, die baskischen Tapas, angerichtet sind, unverschämt herausschreien: Friss mich.

Das würde für ein paar Tage, an denen man sicher nicht abnehmen will, schon reichen. Aber außerdem gibt es in San Sebastián, bezogen auf seine Größe, mehr Sternerestaurants als in Paris und Tokio zusammen: „Arzak“, „Martín Berasategui“ und „Akelaŕe“, drei Dreisterner; das Mugaritz, zwei Sterne, von dem gemunkelt wird, es sei etwas moderner und vielleicht noch besser als die drei Großen.

In diesen vier Restaurants habe ich einen Tisch bestellt. Seit das Baskenland vor einigen Jahren zum kulinarischen Hotspot ausgerufen worden ist, wollte ich immer schon mal hierher. Dass die kulinarische Welt sich inzwischen mehr mit der dogmatisch-regionalen Küche der Skandinavier beschäftigt als mit der eleganten Wurst-und-Fisch-Küche der Basken, kommt mir nur gelegen: Immerhin bekomme ich überall einen Tisch. Elf Sterne in drei Tagen, was für ein Plan.

Im „Mugaritz“ esse ich grandiose Macarons aus Blut und Käse, Knochenmark auf Toast, gebackenes Kalbsbries und diese wunderbaren, scharlachroten Krebse, die mit durchsichtigen Nudeln und einer so anbetungswürdigen Sauce aus Paprika und Tomaten serviert werden, dass ich mir Nachschlag bestelle.

Im „Akelaŕe“ sitze ich hoch über dem Golf von Biskaya und kriege angesichts dieses prächtigen Anblicks und des überwältigenden Geschmacks einer ausgelösten Muschel ein leichtes Schwindelgefühl.

Dafür bin ich hierher gekommen: Dass für einen Moment die Fäden aller Empfindungen zusammenlaufen und mich mit einem flüchtigen Glücksgefühl erfüllen. Gleich ist es wieder weg, aber für einen langen Augenblick ist es stärker als alle Zweifel und alle Einwände.

Denn natürlich kann man den Nutzen solcher Reisen hinterfragen. Sie kosten eine Menge Geld, der Hausarzt nickt nur mäßig begeistert mit dem Kopf, und in einem größeren Kontext gesehen wirken sie dekadent und kleinkariert (wobei: was wirkt in einem größeren Kontext nicht dekadent und kleinkariert?).

Aber wie Besuche in der Oper, bei irgendwelchen Festspielen oder von mir aus beim Triathlon in Hawaii, vermitteln mir gelungene kulinarische Erlebnisse Momente vollkommener Einmaligkeit, und diese Momente sind mir den Aufwand wert, auch wenn ich dafür in mehr als ein Stück Papier beißen muss.

Als ich am selben Abend bei „Martín Berasategui“ zum Abendessen aufkreuze, stellt mir der Chef persönlich seine 50 Köche vor. Sie bereiten das Menü für 30 Gäste zu.

„Nichts Großes“, sagt Berasategui, „nur zehn Gänge.“

Ich bringe es nicht übers Herz, ihn um etwas kleinere, oder, schlimmer noch, um weniger Portionen zu bitten. Der geräucherte Aal mit Gänseleber, Frühlingszwiebeln und grünem Apfel ist nämlich der Hammer und die unmittelbar darauf folgende Tintenfischsuppe mit einem schwarzen Raviolo beschwört meine Mittagsbegeisterung wieder herauf.

Beim dritten Gang, einer Auster mit Gurke, Kefir und Kokosnuss, gibt Ricardo auf. Der Fotograf aus Valencia hat mich bis hierher tapfer durch das gesamte Programm begleitet, packt aber nach der Auster seine Sachen zusammen und verschwindet. Auf dem Weg zum Ausgang muss er sich durch eine Gasse besorgter Servicemitarbeiter quälen, von denen sich jeder persönlich für den Missklang verantwortlich fühlt. Geduldig erklärt Ricardo, dass nicht dieses Essen an seiner Übelkeit schuld sei, sondern zu viel Essen im Allgemeinen.

„Zuviel Essen?“, fragen die Kollegen verständnislos. „Wie meinen Sie das?“

Ja, wie meint er das? Die zwölf (der Chef hatte geflunkert!) Gänge werden in einem so hohen Tempo serviert, dass ich gar keine Zeit habe, darüber nachzudenken. Erst als alles vorbei ist, denke ich: Schade.

Das Essen bei „Arzak“ war der dramaturgische Höhepunkt meiner Dreisterntage in San Sebastián. Juan Marí Arzak und Pedro Subijana vom „Akelaŕe“ waren, als die „kulinarische Revolution“ durchs Baskenland fegte, die jungen Wilden in der ersten Reihe gewesen. Aber es blieb Arzak vorbehalten, zu einer Art Lokalheiligem zu werden.

Das Mittagsmenü kostet bei Arzak 179 Euro, ohne Getränke, das ist im Vergleich der Superrestaurants ziemlich und für die Region astronomisch teuer.

„Ja“, bestätigt Arzak zufrieden, „aber die Einheimischen kommen trotzdem. Die, die Geld haben, kommen jeden Monat. Die anderen sparen eben und kommen nur einmal pro Jahr.“

In der Küche wird gerade das Personalessen gekocht, ein großer Topf mit Muscheln im Sud. Ich darf am Küchentisch Platz nehmen. Arzak sitzt rechts, seine Tochter Elena links von mir. Ich bekomme das gastronomische Mittagsmenü, die Arzaks das Personalessen. Das Mittagsmenü ist ein Multimediaereignis. Eine Muschel mit Tonic wird auf einer zerdrückten Schweppes-Dose serviert, der „Fisch des Tages“ kommt auf einer Art iPad, der die Wellen der Brandung zeigt und entsprechende Geräusche absondert. Das Dessert sieht aus wie eine Kinderzeichnung, mit Marienkäfern und einem derben Fußabdruck in einem Blumengarten (mit echten Blumen).

Mit sichtbarer Zufriedenheit nimmt Arzak zur Kenntnis, dass ich auch die silbernen Schrauben und Muttern aus der „Eisenhandlung Arzak“ probiere, Petits Fours aus Schokolade, die mit Sesam gefärbt und in Plastikgussformen modelliert worden sind. Niemand hat so viel Spaß an kindischen Witzen wie der große Arzak persönlich.

Ich hingegen bin zwar beeindruckt von der Virtuosität der neuen baskischen Küche, aber auch ein bisschen betrübt. Zu gerne hätte ich den Muschelreis probiert, von dem Juan Marí ganze zwei Teller verdrückt hat.

Das nächste Mal. Dann klappere ich auch die Liste der besten Pintxos-Bars ab, die mir Elena zugesteckt hat.

Wollte ich immer schon mal machen.

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