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Kulinarik

Ode an das Wirtshaus

Die „Alpenrose“ sperrt zu. Gerechnet ab heute, Samstag, hat das Traditionsrestaurant an der Fabrikstraße 12 noch eine schwache Woche Normalbetrieb, Montag und Dienstag „Wirtinnensonntag“, Mittwoch, Donnerstag, Freitag geöffnet, dann gibt es noch ein Aufessen und ein Austrinken, und im stumpfen Licht eines weiteren Sommertags kommt dann schon der unsentimentale Möbelwagen, um das Zeug abzuholen, die Holztische mit ihren blank gescheuerten Oberflächen, die dunkelgrün gestrichenen Stühle, das Werbeplakat für Rössli-Zigarren, das Klavier, die Jukebox, die Gläser, Messer und Gabel, mit denen wir uns über jede Mahlzeit in diesem Haus hergemacht haben als wäre es die letzte. Jetzt ist es die letzte.

Ein gutes Wirtshaus ist eine geheimnisvolle Zentrifuge, eine Zeitmaschine. Du gehst als junger Mann hinein und kommst als alter Mann heraus. Wissen Sie, sagst du einmal zur Wirtin, ich hab jetzt einen Job ganz in der Nähe, das wird toll, und dass es dann in Wirklichkeit gar nicht so toll ist, musst du gar nicht erzählen, weil man es daran erkennt, mit wem du kommst und wie oft und mit welchem Gesicht. Stolz erscheinst du nach einer langen Pause zum ersten Mal mit deinem Baby, hältst es für selbstverständlich, dass es ausgiebig bewundert wird, und ein bisschen später lädt dich das Baby, weil es erwachsen geworden ist, zum ersten Mal seinerseits auf Pizokel ein und ihr teilt eine Flasche Bachtobel No2, und das Baby zahlt.

Die „Alpenrose“ sperrt zu. Warum berührt mich das so? Warum berichten die Wirtinnen Katharina Sinniger und Tine Giaccobo, dass sich schon im Frühsommer, als die Ankündigung der finalen Sperrstunde die Runde gemacht hatte, Menschen, die sie gar nicht so gut kannten, mit Tränen in den Augen von ihnen verabschiedeten? Dass sich an der Bar, dort wo man die Rechnung bezahlt oder allenfalls noch ein letztes Herrgöttli nimmt, Dramolette abspielen, deren Pointe auf den unvermeidlichen Kloss im Hals zielt, auf eine Umarmung, die vielleicht persönlicher ist als die Beziehung, die man zum Menschen in Wahrheit hatte?

Natürlich werden die Schmorbraten und das gebratene Gemüse, die Pizokel, Malfatti und Schupfnudeln, die Zitronenravioli und das Ragout vom Puschlaver Lamm, die Caramelchöpfli und Schoggischnitten dem Quartier, dem Kreis, der Stadt fehlen. All diese Gerichte werden sogar schmerzlich fehlen, weil es ausgerechnet auf dem Sektor der bodenständigen, herzhaften, seelenvollen Regionalkulinarik in Zürich keinen gleichwertigen Ersatz für die „Alpenrose“ gibt, keinen Ort, wo das Gemüse so gut ausgesucht und das Fleisch so perfekt geschmort ist und mit dem entscheidenden Löffel Butter am Ende sicher nicht gespart wird. Die fundierte und von einer vehementen Liebe zur helvetischen Wahlheimat befeuerte Kochkunst der fränkischen Einwanderin Tine Giaccobo hat während zweiundzwanzig Jahren „Alpenrose“ einen bezaubernden Flirt mit der Perfektion hingelegt, und das wiegt bestimmt schwer auf der Ladefläche der Sentimentalitäten.

Auch dass es Wein für jede Stimmung gab, hat sein Gewicht, klar. Die Wirtin Katharina Sinniger kannte für alle Gelegenheiten die richtige Flasche aus der Schweiz. Am Anfang hatte man noch misstrauisch nachgefragt, ob man nicht ersatzweise etwas Molliges, Breitschultriges aus Italien haben könne oder aus dem befreundeten Nachbarland Frankreich, aber nachdem die Wirtin immer wieder etwas Feingestricktes, Helläugiges aus dem Thurgau oder dem Zürcher Oberland aufgetischt hatte, das überraschend, nein, sensationell gut gewesen war, hatte man sich dieser Grille der Wirtin gefügt und trank Schweizer Wein. Man trank ihn erst auf Bewährung, dann gern, und schließlich begann man ihn sogar ein bisschen zu lieben, so wie man die Wirtin zu lieben begann, wenn sie auf die Frage, welchen Wein man zum Schmorbraten nehmen solle, pfiffig über den Brillenrand lächelte und sagte, da hab ich was.

Aber reicht das alles aus, um einen Gast, der in all den Jahren ein paarmal da gewesen ist, zu motivieren, beim Abschied einem ihm fremden Menschen um den Hals zu fallen, ihn eine Sekunde lang zu drücken, wie man sein Kind drückt, das man gehen lassen muss? Ist die Tatsache, dass Wirtsleute ihren Job gut machen, ein plausibler Grund dafür, dass man ihnen im wahrsten Sinne des Wortes nachweint, sobald sie sich in den Ruhestand verabschieden? Entspringt die Emotion, die man bei dieser Verabschiedung spürt, dem objektiven Verlust?

Die „Alpenrose“ ist, um den großen Joseph Mitchell und dessen Porträt des New Yorker Originals „Old Mr. Flood“ zu paraphrasieren, „keine einzelne“ Beiz; „in ihr vereinigen sich Züge verschiedener alter“ Beizen, die in der Schweiz ihr Dasein fristen und in denen wir unsere Zeit verbringen.

Wir weinen also um unsere eigene Kultur und die Lebenszeit, die vergangen ist, seit wir zum ersten Mal durch diese Tür hereinkamen, die Dimensionen des Raums vermaßen und den zupackenden, glasklaren Duft nach Essen (wobei sich dazu wahrscheinlich ein paar blaue Rauchschwaden von der Marlboro-Fraktion gemischt haben, die man jedoch gern vergisst und stalinistisch aus der Erinnerung tilgt) mit weit geöffneten Nüstern aufsogen? Erinnern wir uns daran, dass damals die Zukunft noch glänzte, wenigstens unsere, oder haben wir inzwischen gemerkt, dass Zukunft kein Guthaben ist, von dem wir beliebig viel abheben können?

Als ich die „Alpenrose“ zum ersten Mal besuchte, nistete ich mich sofort in der unübersehbaren Schönheit des Lokals ein. Traditionelle, sorgfältig gepflegte Holzvertäfelungen an den Wänden, mannshohe Doppelstockfenster, klassische Beizentische. Manche Tische waren weiß gedeckt, andere zeigten stolz ihre Oberfläche (die Wirtinnen erzählten mir später, dass es billiger gewesen sei, Tischblätter aus Sperrholz weiß einzudecken als neu schreinern zu lassen, allein das sei der Grund für die weißen Tischdecken gewesen, man habe es eigentlich lieber währschaft).

An der Wand hingen bunte Dinge, die ich nicht verstand, aber die zweifellos hierher gehörten, Blumenbilder, alte Reklameschildchen. Über das Schild mit dem protestantischen Schriftzug „Hüpftanz verboten“ musste ich schmunzeln. Auf dem Balken, der den Speisesaal von der Eingangshalle trennt, entzifferte ich den in Fraktur geschriebenen Slogan „Ob Heide, Jud, oder Christ. Herein, was durstig ist“. Von der Ironie dieser ökumenischen Einladung fühlte ich mich angesprochen.

Zuerst ging ich in die „Alpenrose“ nur, um gut zu essen. Es gibt solche Funktionsgaststätten, du bekommst, was du bestellst, nicht mehr, nicht weniger. Bald aber ging ich in die „Alpenrose“, weil mir etwas anderes ebenso viel zu bedeuten begann wie die Speisen auf dem Teller, auch wenn diese ohne jeden Zweifel alles ausstachen, was man in einer schweizerischen Quartierbeiz ohne aufgestellte Servietten bestellen konnte.

Da war auch das Licht, das warm durch die hohen Fenster fiel und Muster auf dem Holzboden zeichnete. Das Lächeln der Wirtin, die mich erkannte, aber meinen Namen noch nicht wusste (oder sich den Gruß per Namen, mit dem Wirten ihre Gäste adeln, für später aufhob. Auch das gehört übrigens zu den Feinheiten guter Gastgeber, dass sie wissen, wann sie ihren Gästen die richtige Portion Vertraulichkeit zumuten. An manchen Orten wirst du viel zu schnell wie ein Stammgast behandelt, und selbstverständlich nimmst du mangelnde Balance störend wahr; an manchen Orten – wie der von mir einseitig geliebten „Kronenhalle“ – braucht es ein Rechnungsvolumen von 100.000 Franken oder einen Auftritt bei „Top Model“, um beim Maître für einen Schimmer des Wiedererkennens zu sorgen – beides unerreichbar). Und da war das Nicken anderer Gäste, die man am selben Ort schon einmal gesehen hat und mit denen man ungeschaut etwas gemeinsam hat, nämlich eine Meinung: Man isst hier gut, nicht wahr? Und schön ist es auch, bis bald, wir sehen uns.

Kein Ort bündelt Biographien besser als das Wirtshaus. Ich sah Menschen an ihrem Tisch sitzen, und ich konnte sofort ihre Lebensgeschichten decodieren. Plötzlich hat der Typ, der sonst immer mit unmöglichen Cargohosen aufmarschiert ist, lange Hosen an und glattrasierte Wangen, und er säuft nicht Paulbier mit seinem Kumpel, sondern Wein mit einer jungen, adretten Frau, die ihn verdächtig lächelnd mustert und ihrerseits gerade einen Film ablaufen lässt (ich kann ihn wie eine Denkblase im Comic direkt über ihrem Kopf schweben sehen): Wie wäre denn so ein Leben mit dem da? Ach. Seufz.

Über einem anderen Tisch an einem anderen Tag ziehen dunkle Wolken auf. Dort sitzen zwei Gesichter, die einander so gut kennen, dass sie sich nicht mehr verstellen müssen. Sie verhandeln Elementares, du merkst es daran, dass sie vom Essen, das freundlich wie immer serviert wird, eher belästigt als aufgeheitert werden. Als wenig später die eine aufsteht, ein paar kleine Scheine auf den Tisch wirft und nur der Wirtin einen Abschiedsgruß zuflüstert, ist man Zeuge eines Ermüdungsbruchs geworden. Wortlos wandert ein klares Getränk an den halb verwaisten Tisch, mehr Zuwendung wäre zu viel. Mir fällt dazu das geniale Gedicht von Theodor Kramer ein, auch wenn das Getränk nicht stimmt und der Mann eine Frau ist:

„Wann immer ein Mann trifft auf einen,

der im Winkel sitzt, stumm und allein,

so schuldet, so sollte ich meinen,

er ihm ein Glas Bier oder Wein.

Bis die Augen nicht unstet mehr wandern

und sich aufhellt das bittre Gesicht;

dies schuldet ein Mann einem andern,

aber zuhören muß er ihm nicht.“

Beim nächsten Besuch dann die Auskunft: Ja, die beiden haben sich wirklich getrennt, hier, vor Publikum.

Die Wirtinnen und die Lebensgeschichten ihrer Gäste in Mahlzeiten. Tauffeier, Maturafeier, Verlobungsfeier (ein- und derselben Person). Gäste, die immer weniger essen und eines Tages nicht mehr kommen, nie mehr kommen. Stammgäste, die nach einem Knatsch im Nirwana des Draußen verschwinden. Prominente, die zuerst ihre Bedeutung im Gesicht tragen und erst später ihr eigenes Gesicht.

Die Zentrifuge der Zeitmaschine springt an. Erinnerungen aus dem Inneren der Gaststube kochen hoch. Betroffenheiten, Schnurren und Triviales mischen sich auf aberwitzige Weise, und du kannst hören, wie die Wirtin einmal Auskunft über dich selbst geben würde, nein, ich weiß auch nicht, der ist schon lange nicht mehr da gewesen. Oder: Schauen Sie, da drüben sitzt er ja, nur seine Haare sind ein bisschen grau geworden.

Wirten sind Freunde auf Zeit, so wie das Wirtshaus temporäre Heimat ist. Sie sind da, wenn man sie braucht, und wir brauchen sie ja nur selten, damit sie unseren Liebeskummer mit einem Glas Schnaps lindern. Meistens brauchen wir nur ein bisschen mehr Sauce oder ein Stück Brot, im schlimmsten Fall haben wir das Portemonnaie vergessen und müssen für diesmal anschreiben lassen – in diesem Fall empfiehlt es sich übrigens, wenn die Wirtin unseren Namen doch schon einmal gehört hat.

Meine Bilanz mit der „Alpenrose“ ist ausgeglichen normal und erschütternd persönlich. Ich lernte auf Tisch sechs einen Kollegen kennen, mit dem ich heute eng befreundet bin. Wir hatten uns nicht von ungefähr in der „Alpenrose“ verabredet, und seither haben wir so viel Zeit wie möglich an der Fabrikstrasse verbracht (von den 19.800 Kilogramm Pizokel, die Tine Giaccobo während 22 Jahren in der Küche geknetet hat, haben wir sicher zwanzig verzehrt, jeder von uns).

Ich wurde mitgenommen in die Beiz, dann brachte ich Leute mit in die Beiz, manchmal in kurzen, manchmal in langen Abständen. Die Wirtinnen waren immer da. Den beiden gelang das paradoxe Kunststück, völlig resistent gegen kulinarische Zeitgeist-Dogmen zu sein, und trotzdem mit ihrem Qualitätsgespür Zeitgenossenschaft zu beweisen. Trends gingen an der „Alpenrose“ spurlos vorüber. Nur die erprobte, ausgewogene Philosophie blieb, Einfaches maximal gut zuzubereiten. Und natürlich diese massive Menschlichkeit. Wenn ich jemand nach einem Konzept für ein neues Wirtshaus fragen würde: Es wäre dieses.

Dabei kann ich nicht einmal behaupten, dass ich Stammgast war. Dieses Etikett verdienen die Gäste, die buchstäblich jede Woche einmal zur selben Zeit am selben Tisch sitzen und die Speisekarte studieren, um sich aus dem Vertrauten das Überraschendste auszuwählen. Wenn es Gelegenheitsstammgästen wie mir schon so schwer fällt, Abschied von der Beiz zu nehmen, wie geht es denen?

Ich war mit vielen Freunden in der „Alpenrose“. Allen leuchtete die Wirtschaft mit ihrem speziellen Charakter ein, zum Glück. Eine Beiz, wohin man Menschen einlädt, ist auch ein kleiner Nebenschauplatz deiner eigenen Seelenlandschaft, und du bist nicht nur Gast, sondern auch Gastgeber.

Einer dieser Freunde, mit denen ich hier gebratene Perlhühner abnagte, lebt nicht mehr. Hinter den Tischen, wo wir damals hockten, kann ich noch den Schatten sehen, den er damals warf. Die Beiz wird ihrer Aufgabe als Zeitmaschine jedes einzelne Mal gerecht. Aber wenn die Zeitmaschine im stumpfen Licht jenes nahen Sommertags demontiert wird, werden sich auch die dort gespeicherten Erinnerungen auflösen und transzendieren.

Allein meine eigenen Erinnerungen kleben wie ein imaginärer Firnis an der Holzverschalung dieser Wirtschaft. Darüber und darunter liegen die unzähliger anderer Gäste. Die Beiz ist im Endeffekt ja nichts anderes als die Summe all dessen, was hier gelacht und geliebt und gefeiert und geträumt und gestritten und gelästert wurde. Es gibt Kneipen, deren Bilanz diesbezüglich tief im Groben steckt, vielleicht sind die Stammgäste auch entsprechend froh, wenn der Wirt eines Tages ohne Angaben von Gründen den Schlüssel zweimal umdreht und verschwindet.

Aber hier ist das anders. Die Leute, denen es gelungen ist, ein letztes Mal einen Tisch zu reservieren, sitzen lange nach dem Essen noch auf den grün gestrichenen Stühlen, lassen den Kopf in den Nacken fallen und versuchen, sich die „Alpenrose“ einzuprägen, Detail für Detail, so wie man ein Gedicht auswendig lernt oder ein Lied, zum Beispiel „Scenes from an Italian Restaurant“ von Billy Joel:

„A bottle of white, a bottle of red

Perhaps a bottle of rose instead

We'll get a table near the street

In our old familiar place

You and I, face to face, mmm“

Mmm.

Tine Giaccobo und Katharina Sinniger sind ab nächster Woche nicht aus der Welt. Sie beziehen in der Nähe ihres ehemaligen Restaurants einen Büroladen namens „Zentrale“ und verwalten von dort die Geschäfte ihrer Zweigstellen, des „Limmatlädeli“ mit seiner Suppenküche , der Crêperie „Babette“ und der Speiseeisherstellung „Eisvogel“. Man wird sie wahrscheinlich in der Migros am Limmatplatz treffen, und vielleicht auch auf irgendeinem Fußballplatz, wo die Frauen tschutten, die sie mit „Alpenrose“-T-Shirts unterstützen und die, wie man sagt, nicht ihre beste Saison spielen. Außerdem arbeitet Tine Giaccobo an einem Kochbuch namens „Jetzt müsst Ihr selber kochen“, das erklärt sich einerseits von selbst, umfasst aber andererseits sämtliche Rezepte aus 22 Jahren „Alpenrose“, so dass man zu Hause wenigstens das Echo dieser Zeit nachkochen kann. Und ja, es gibt viele plausible Gründe, ein legendäres Restaurant nach zweiundzwanzig Jahren Dauerbetrieb zu schließen und einmal auf sich selbst zu schauen.

Es gibt aber mindestens so viele Gründe, sich darüber zu beklagen. Ein Ort, der so vielen von uns die Hand geboten hat und uns zum Träumen verführte, wird demnächst entladen und zurück auf Null gestellt. Wollen wir hoffen, dass wir noch einmal so einen Ort finden, an dem wir auf so angemessene Weise willkommen sind.

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