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Gesellschaft

Mein Alter

Wenn diese Geschichte erscheint, bin ich um neunzehn Tage älter als mein Vater je war. Mein Vater wurde nur 53 Jahre und 103 Tage alt. Er starb am 30. Mai 1993, einem Tag, den ich mit der stampfenden, guten Laune eines Hangovers begann. Tags zuvor war ein Freund von mir vierzig geworden. Er hatte in unserem gemeinsamen Stammlokal im Zürcher Kreis 5 eine Party geschmissen, wir hatten viel getrunken und gelacht, und ich war erst nach Hause gegangen, als es schon hell wurde. Ich wusste, dass mein Vater die Nacht in Wien im Krankenhaus verbrachte, aber ich maß dem keine größere Bedeutung bei. Er hatte Schmerzen im Bauchraum gehabt und war deswegen in die Notaufnahme gegangen, soviel war klar, aber nie wäre ich auf den Gedanken gekommen, dass der Grund dieser Schmerzen – wie sich später herausstellte, die Entzündung der Bauchspeicheldrüse – meinen Vater umbringen würde und zwar binnen 24 Stunden. 

Als wir am Tag vor seinem Tod zum letzten Mal miteinander telefonierten – ich in Luzern, er in Wien auf der Internen im Krankenhaus Lainz – fiel mir zwar auf, wie schlecht und angestrengt er klang, aber die Schärfe der Bedrohung drang nicht zu mir durch. Mein Vater war vielleicht nicht mehr jung, aber keinesfalls in einem Alter, dachte ich, in dem man stirbt. Wenn aus der wechselhaften Geschichte unserer Beziehung ein Motiv herausstach, dann war es jenes der Zukunft, von der wir – er 53, ich 32 Jahre alt – noch reichlich zu haben schienen. In dieser Zukunft würde vieles von dem, was zwischen uns ungesagt und ungetan geblieben war, ausgesprochen und ausgelebt werden, und allein deshalb schien mir der Gedanke absurd, dass das kurze, inhaltslose Telefongespräch an sein Krankenbett zu famous last words werden könnte. Wir waren noch nicht fertig miteinander. An Abschied nicht zu denken.

Auf meine Frage, wie es im gehe, antwortete er „nicht gut“. Logisch, sonst wäre er ja nicht ins Krankenhaus gegangen. Dass er Mühe beim Sprechen hatte, dass er Angst hatte, verzweifelt war, kann ich heute hören, in meiner Erinnerung, aber nicht damals, an diesem Samstag im Mai des Jahres 1993. Ich notierte die Telefonnummer meines Vaters auf die Rückseite der aktuellen „Spiegel“-Ausgabe – Titelgeschichte war ein Porträt des obskuren VW-Managers José Ignacio López – und fragte ihn, ob es okay sei, wenn ich morgen um die selbe Zeit wieder anrufe. Er sagte ja, was sonst, ich murmelte noch ein paar sinnlose Trostworte, wird schon, bald wieder gut, und verabschiedete mich. Als ich von Luzern nach Zürich fuhr, als das Fest losging, als gelacht, geschwelgt, gewitzelt, geturtelt wurde, dachte ich nicht ein einziges Mal an meinen Vater, der im Wiener Krankenhaus seine letzte Nacht erlebte.

Mein Vater klagte nie über die prekären Umstände seiner Jugend. Er war 1940 in Wien auf die Welt gekommen, mitten im Zweiten Weltkrieg, sein Vater starb 1945 in russischer Gefangenschaft, deshalb musste mein Vater als ältester von drei Brüdern den Mann im Haus darstellen, was er irgendwie hinkriegte. Alle drei Brüder schafften es, keine Selbstverständlichkeit, aufs Gymnasium. Mein Vater war der begabteste. Er konnte gut zeichnen, sein Strich war fein und sicher. Er wollte Architekt werden, aber als er 20jährig sein Architekturstudium begann, lernte er eine junge Frau kennen, die kein Jahr später meine Mutter war. Es ist der Normalität der frühen sechziger Jahre geschuldet, dass die Episode nicht einfach übergangen oder wegredigiert wurde, sondern in ein folgenreiches Missverständnis mündete. Volles Programm: Hochzeit im Frühjahr, Geburt des Knaben im Herbst, Unglück im Winter, Trennung im nächsten Frühjahr. Der Knabe, ich, wuchs dann bei der Großmutter auf, der Mutter meines Vaters, und das war im Gegensatz zum Beziehungsleben meiner Eltern eine gute Idee.

Mein Vater, 21, heuerte dann ohne Studium in einem Architekturbüro an, aber anstelle inspirierender, kreativer Prozesse, die er sich wahrscheinlich erträumt hatte, warteten vor allem die Aufgaben auf ihn, vor denen sich Architekten gerne drücken: Organisation, Kontrolle, Zeitplan. Wenn man am Schluss fragte, was denn eigentlich sein Anteil an einem Bauwerk sei, antwortete mein Vater ein bisschen frustriert: „Dass es steht.“

Unter der Woche wohnte ich bei der Großmutter, am Wochenende holte mich der Vater ab. Meistens fuhren wir im Döschwo seinen Bruder besuchen, meinen Onkel, der selbst zwei Töchter hatte, dort wurde ich den Girls überlassen. Die Männer spielten einander neue Jazz- und Rockplatten vor, rauchten Zigaretten und tranken Bier. Musik, Rauch, Rausch: aus diesem Material bestehen meine frühen Erinnerungen. An viele Ausflüge ins Grüne kann ich mich nicht erinnern, an Museums- oder Theaterbesuche gar nicht, und auf Urlaub fuhren wir nur zweimal: einmal zu zweit an einen Kärntner See, ein anderes Mal gemeinsam mit der neuen Freundin meines Vaters nach Jugoslawien, wo ich nur widerstrebend einwilligte, mit an den FKK-Strand zu gehen.

Mein Vater hatte in meinen Augen etwas Wildes, Romantisches. Er war selten da, man konnte nie genau sagen, wann er auftauchen würde. Er hatte sich, roaring sixties, die Haare lang wachsen lassen, bis auf die Schultern – was mir meine Großmutter nie und nimmer gestattet hätte –, trug sein Hemd bis auf die Brust aufgeknöpft und sagte Dinge über einzelne Lehrer, die im Haus meiner Großmutter niemals ausgesprochen werden durften. Wenn sie die altmodische, obrigkeitsgläubige Systemerhalterin war (was sie war; wenn auch weit mehr als das), trat mein Vater als juveniler Anarchist auf. Sie übte mit mir auf der Blockflöte Telemann-Sonaten. Er brachte mir „Fool on the Hill“ von den Beatles mit, den einzigen satisfaktionsfähigen Popsong, in dem eine Blockflöte zu hören ist. Mir war gar nicht bewusst, wie wenig, verglichen mit anderen Vätern, meiner sich um mich kümmerte, und trotzdem galt für meinen, was Philip Roth in seinem Buch „Mein Leben als Sohn“ lakonisch über seinen Vater schrieb: „Er war nicht irgendein Vater, er war der Vater, mit allem, was es an einem Vater zu hassen gibt und allem, was es an einem Vater zu lieben gibt.“ Ich hasste, dass er nur am Wochenende da war und dass er mich dazu gezwungen hatte, nackt baden zu gehen. Den Rest, den ich gar nicht wirklich kannte, liebte ich.

Am Sonntag, dem 30. Mai 1993, stand ich gegen zehn auf, ging zum CD-Player und legte meine Lieblings-CD dieser Wochen ein, „Fragments of a Rainy Season“ von John Cale, ein Livekonzert, auf dem Cale ein paar seiner besonders schönen Songs hart an der Grenze zum Absturz vorführt (oder, wie bei „Heartbreak Hotel“, weit darüber hinaus). Höhepunkt der Platte war Cales Version des Cohen-Klassikers „Hallelujah“, den er sich mit seiner tiefen, hohlen Stimme und einer unvergleichlichen Intensität des Vortrags aneignet. Ich steuerte „Hallelujah“ an und drehte die Regler nach rechts, dann läutete das Telefon und ich nahm ab.

„Dreh die Musik leiser“, sagte mein Onkel aus Wien, und ich drehte die Musik leiser.

Dann sagte er: „Dein Vater ist gestorben.“

Mein Onkel und meine Großmutter hatten meinen Vater im Spital besuchen wollen und waren nicht zu ihm vorgelassen worden. Die Entzündung der Bauchspeicheldrüse hatte zu einem Multiorganversagen geführt, gegen das auch heftige Wiederbelebungsmaßnahmen nichts ausrichten konnten. Mein Vater war tot, und ich hatte gedacht, er hole sich maximal die Ermahnung einer Krankenschwester ab, ein bisschen besser auf sich aufzupassen.

Ich konnte mit dem Schock, der Trauer und der Empörung gar nicht umgehen. Nachdem ich das erste Tal der Tränen durchwandert hatte, musste ich mich um Dinge kümmern, von denen ich nun wirklich keine Ahnung hatte – ein Grab besorgen, einen würdigen Abschied inszenieren, eine Grabrede schreiben, die Musik zur Zeremonie aussuchen, mich um das Erbe kümmern – und mich in diesem Koordinatensystem artfremder Beschäftigungen überhaupt erst dessen vergewissern, was ich gerade verloren hatte. Der Vater war tot. Fehlte er mir als Person? Fehlte mir die Vorstellung, dass er in meinem Leben noch einmal eine wichtigere Rolle einnehmen würde als bisher? Oder setzte mir der Verlust der jungfräulichen Unbeschwertheit zu, die mich bis zum Anruf meines Onkels beseelt hatte, die jugendliche Unbesiegbarkeit, von der man zwar ahnt, dass sie nicht ewig dauern wird, was freilich nicht heisst, dass man glaubt, dass sie verschwinden könnte?

In seinem Roman „Lügen über meinen Vater“ schreibt der schottische Schriftsteller John Burnside: „Ich kann nicht über [meinen Vater] reden, ohne über mich selbst zu reden, so wie ich nie in den Spiegel sehen kann, ohne sein Gesicht zu sehen“. Die Erkenntnis, dass ich mit meinem Vater tiefer verbunden bin, als ich mir das vielleicht vorstellen wollte, streifte mich erst lange, nachdem ich aufgehört hatte, die Sonntage, die Wochen, die Monate zu zählen, die mein Vater nicht mehr erlebt hatte.

Ich beobachtete mich dabei, einen Witz zu machen, wie ihn auch mein Vater gemacht haben könnte, weniger charmant, als das meinem Selbstbild entsprach; ich sah mir dabei zu, wie ich dieselbe entwürdigende Glatze bekam wie er. Auf Fotos bemerkte ich sein melancholisches Lächeln in meinem Gesicht und begann mir Gedanken darüber zu machen, wie mein Leben jetzt, wo ich nicht mehr mit ihm sprechen konnte, noch immer mit seinem Leben zusammenhing.

Aber merkwürdig: Sobald ich mir etwas Konkretes, Lebendiges vorstellen wollte, scheiterte ich wie die Erzählerin in Hilary Mantels Story „Endstation“, die ihren toten Vater in einem Zug vorbeifahren sieht, sich reflexartig an ihn erinnern möchte und bemerkt, dass ihr nichts in den Sinn kommt: „Selbst in den hintersten Winkeln meines Gedächtnisses wurde ich nicht fündig, mir wollte keine einzelne Situation einfallen. Dabei sollte ich voller Anekdoten sein (…). Aber ich bekomme nichts zu fassen und kann nur sagen, dass eine gewisse Anzahl an Jahren verstrichen ist.“

Diese Arithmetik der Erinnerung an meinen Vater schob sich langsam in den Vordergrund. Mir fiel auf, dass der Zeitpunkt seines Todes, sein Alter beim Abgang, eine Art Fluchtpunkt für mich darstellte, der anfangs noch weit entfernt war, mit den Jahren aber markanter und deutlicher wurde. Dieser Fluchtpunkt, der Tag, an dem ich 53 Jahre und 103 Tage alt wäre, nötigte mich zu ständiger Positionsbestimmung: Wo stehe ich? Wo stehe im Verhältnis dazu, wo mein Vater stand? Und wo stehe ich in meinem eigenen Leben, gemessen an meinen Wünschen und Träumen, Ansprüchen und Vorstellungen? Wenn ich jetzt vor dem fait accompli stünde, vor dem mein Vater stand, wie würde ich, was bisher geschah, bewerten? Würde ich etwas bewerten? Würde ich klar sehen oder bloß die Augen schließen?

Als ich 1993 die Grabrede für das Begräbnis meines Vaters aufschrieb – ein Freund las sie der Trauergesellschaft vor, weil ich selbst noch viel zu verstört war, anschließend spielten wir das großartige Stück „All Blues“ vom epochalen Miles Davis-Album „Kind of Blue“ – begann ich mit einer Art Präambel zum Wesen von Grabreden. „Grabreden sind meistens unbefriedigend“, schrieb ich. „Sie sind so vorsichtig wie unvollständig. Sie dienen nicht dazu, einen Toten dazustellen, wie er war, sondern wie wir ihn gern gehabt hätten. Das hat seinen Sinn: Es fällt uns in der Regel schwer genug, uns von jemandem zu trennen. Der, der gestorben ist, muss schließlich nicht mehr getröstet werden, sondern die, die er zurücklässt.“

Vor allem ich selbst: Ich schrieb meinem Vater die Trauerrede, die mich tröstete, indem ich ihm zuschrieb, ohne Vorbereitung, also auch ohne Angst gestorben zu sein, einen schnellen Abgang gehabt zu haben, wie man ihn sich wünschen mag, wenn man nicht altersweise und mit sich im Reinen ist oder, um es auszusprechen, panische Angst vor dem Sterben hat.

„Ich glaube, dass sich mein Vater einen schnellen Abschied gewünscht hat“, schrieb ich. Aber woher wollte ich das wissen? Später, erst lange nach dem Begräbnis, erfuhr ich aus Gesprächen, dass mein Vater durchaus eine Ahnung davon gehabt hatte, dass es nicht gut um ihn stand. Dass er schon über Monate Schmerzen gehabt hatte, die er nicht etwa mit den spezifischen, vom Arzt verschriebenen Medikamenten und Verhaltensweisen bekämpfte, sondern, indem er sich, wenn die Bauchschmerzen zu stark wurden, einen Wodka einschenkte und vielleicht noch einen – was bei einer Entzündung der Bauchspeicheldrüse ungefähr dasselbe bedeutet, wie ein Feuer mit einem Kanister Benzin löschen zu wollen.

Dass mein Vater panische Angst vor Krankheit hatte (er hielt die Schmerzen vermutlich für Symptome einer Krebserkrankung), erschütterte mich. Das Ertränken der Schmerzen und der Sorgen im Wodka empört mich noch heute, vor allem, weil sich offenbar niemand dafür zuständig fühlte, das Problem zu sehen, ihm ins Gewissen zu reden und einer vernünftigen Behandlung zuzuführen. Den Vorwurf kann ich auch mir selbst nicht ersparen, auch wenn ich damals nicht in derselben Stadt wie mein Vater lebte und mir bei unseren routinierten Telefonaten – „Was gibt es Neues?“ – „Nichts Besonderes“ – nie aufgefallen ist, dass mein Vater angetrunken oder auch nur irgendwie merkwürdig gewesen wäre. Die etwas arrogante Misanthropie, mit der mein Vater seit seinen späteren Dreißigern immer kokettiert hatte, war offenbar in handfeste Einsamkeit umgeschlagen.

„…kann nicht über ihn reden, ohne über mich selbst zu reden“: Früher hatte mir die Schlagfertigkeit meines Vaters gefallen, sein Witz, auch wenn der für meinen Geschmack zu schnell ins Verletzende umschlagen konnte, sein Gefühl dafür, wie man Räume einrichtet (er bewunderte die puristische Formensprache Richard Neutras), seine Begeisterung für den Jazz der fünfziger und sechziger Jahre, sein Art, wie er sich kleidete (er war der Meisterträger des abgerockten Lacoste-T-Shirts in Kombination mit Flanellhosen).

Darin mochte ich mich gern wiedererkennen (bis auf die Flanellhosen). Aber natürlich fahndete ich auch nach Anhaltspunkten dafür, ob mein Leben der gleichen Flugkurve folgen würde wie seines. Es fiel mir auf, wie er in seinem Beruf zunehmend mit Dingen und Menschen zu tun hatte, denen er lieber ausgewichen wäre, dass er aber gleichzeitig nicht die Energie oder den Mut aufbrachte, daran etwas zu ändern. Nicht dass ich dem Stress und der Überhitzung des Baugewerbes die Schuld an seinem Tod zugeschrieben hätte. Aber ich fand es entwürdigend, dass mein Vater vor der Eröffnung der Baumax-Märkte, deren Bauleitung er innehatte, Blut schwitzen musste, weil die Terminpläne grotesk eng waren und auf ihre Nichteinhaltung Pönalen standen, die ein kleines Architekturbüro wie das, bei dem mein Vater arbeitete, in Schieflage bringen konnten. Ich fand es demoralisierend, dass als Hinterlassenschaft der Kreativität meines Vaters bloß ein paar kistenförmige Baumärkte an der Peripherie herumstanden, die zu allem Überfluss zuletzt sogar in Konkurs gegangen sind.

Scheissarbeit: Mein Vater schlug sich, fand ich, unter seinem Wert, und es regte mich auf, wie die verzehrende Banalität der Arbeit auch den Menschen veränderte: Der Mann, der sich so vital für neue Literatur und abgefahrene Kunst interessiert hatte, glitt in eher geistlose Unterhaltungsmuster vor der Glotze ab, matt, ausgelöscht, Rauch und Rausch. Meine Entscheidung, nie einer „entfremdeten Arbeit“, wie Marx so packend formulierte, nachzugehen, stammt aus der Anschauung meines Vaters in seinen Vierzigern und wurde durch seinen Tod nur noch verstärkt. Dass es mir tatsächlich gelang, war das Produkt vieler Faktoren. Aber den Entschluss, niemals den Kopf für Dinge hinzuhalten, die sich nicht mit meinen eigenen Interessen und Überzeugungen decken, schulde ich meinem Vater, wenn auch indirekt, gemäß dem berühmten Diktum von Michel Foucault: „Wir sollten nicht zu entdecken versuchen, wer wir sind, sondern was wir uns weigern zu sein.“

Ich bin älter, als mein Vater je war. Der Satz hat eine gewisse Wucht, er trägt mich über die Schwelle eines neuen Lebensabschnitts. Wenn ich in den Fotos krame und den Mann mit seiner etwas unordentlichen Frisur sehe, mit den grauen Schläfen und dem Blick, der mir auf irreversible Weise melancholisch zu sein scheint, erfassen mich Traurigkeit, Mitleid und Dankbarkeit, eine merkwürdige, verwirrende Mischung. Dankbar bin ich meinem Vater, auch wenn das arrogant klingt, dass ich nicht so werden musste wie er. Gleichzeitig fehlt er mir immer wieder fast körperlich. Dass er meinen Sohn, der jetzt dreizehn ist, nie kennengelernt hat, ist eine Wunde, die noch immer schmerzt, und dass wir als erwachsene Menschen keine Gelegenheit hatten, die Nähe herzustellen, die ich mir als Junge immer gewünscht hätte, macht mich selbst dann fast eifersüchtig, wenn ich in „Mein Leben als Sohn“ die Passagen lese, in denen Philip Roth mit seinem 86jährigen Vater, der einen Hirntumor hat, den Neurochirurgen aufsucht und es immerhin schafft, „mit meinen Worten seine finstere Stimmung um etwa ein Milliwatt aufzuhellen“.

Dieses Milliwatt hätte ich auch gerne beigetragen, auch wenn ich nicht böse bin, dass meinem Vater und mir der Rest der Geschichte erspart geblieben ist. Um die Intensität vieler Momente, die Vertrautheit und die gemeinsame Erinnerung, die vielleicht wertvollste Währung der gemeinsamen Vergangenheit, tut es mir so leid, dass ich mich manchmal ganz stumpf fühle. Also hole ich meinen Vater näher an mich heran, indem ich mich mit ihm vergleiche, unsere Biographien arithmetisch vermenge, um wenigstens von dem, der ich bin, zu erfahren, wer er gewesen sein könnte. „Ich muss mich genau an alles erinnern“, schreibt Philip Roth, „damit ich, wenn er nicht mehr ist, den Vater wieder erschaffen kann, der mich geschaffen hat.“

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