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Reise

Mein Sommer am FKK-Strand

Ich war ein etwas kompliziertes Kind, das nicht wusste, wie kompliziert es war. Das kam so: Ich wuchs nicht bei meinen Eltern auf, sondern bei meiner Großmutter, der Mutter meines Vaters. Meine Eltern hatten mich in die sorgenden Hände der Erwachsenengeneration übergeben, weil sie selbst noch Kinder waren, als ich zur Welt kam. Meine Großmutter packte mich in Watte, die Ehe, die damals für junge Eltern obligatorisch war, wurde schnell wieder geschieden. Vater und Mutter hatten bald neue Partner, und mit meinem Vater und dessen Freundin fuhr ich in diesem Sommer der späten Sechzigerjahre auf dem Rücksitz eines weißen Renault R4 mit ans Meer, ins damalige Jugoslawien. Ziel meiner ersten Auslandsreise war die Insel Rab, heute ein touristisches Schmuckstück der kroatischen Adriaküste.

Die Reise war lang und spannend. Ich hatte meinem Vater gleich zwei oder drei „Lustige Taschenbücher“ abgeschwatzt, klarerweise Schundliteratur, aber es gab ja noch keine Handys, mit denen man reiseunerfahrene, nicht angeschnallte Grundschüler auf der Rückbank eines R4 ruhig stellen konnte. Gründe zur Beschwerde hatte ich viele: mein Rücken klebte schon nach den ersten Autobahnkilometern an den Kunstledersitzen, die hinteren Fenster des R4 ließen sich nicht öffnen, und sowohl mein Vater als auch seine Gefährtin dachten sich nichts dabei, wenn sie im Auto eine Zigarette nach der anderen rauchten, was ich nicht gewöhnt war und worüber ich mich nur schüchtern beschwerte, genauso wie über das Geschaukel des Autos, die Hitze, den Durst oder den regelmäßig wiederkehrenden Harndrang, für den das ungewohnte Coca Cola sorgte. Ich glaube, die jugoslawische Grenze war noch ziemlich weit entfernt, da hatte ich mich schon für die nächsten gemeinsamen Ferien disqualifiziert. Und es wurde natürlich immer schlimmer.

Wir kamen in Rab an. Die Überfahrt mit der Autofähre von Stinica nach Misnjak war aufregend. Ich sah zum ersten Mal das Meer und war unglaublich gespannt darauf, ob es wirklich so salzig sein würde, wie es mir mein Vater versprochen hatte. Über den Ort, wo wir die nächste Woche verbringen würden, konnte ich nur staunen: hohe Mauern aus Natursteinen, so enge Gassen, wie ich sie daheim noch nie gesehen hatte, ein Duft nach Nadelbäumen und Salz in der Luft, das monotone Schnarren der Zikaden, ein Kirchturm, dem alle barocken Schnörkel fehlten.

Bis jetzt war die Reise zwar aufregend verlaufen, aber innerhalb vertrauter Koordinaten: vertraute Personen, vertrautes Fahrzeug, vertrautes Lustiges Taschenbuch.

Aber jetzt lief die Sache aus dem Ruder. Es ging um Essen und Schlafen. Im Hotel bekamen Vater und Freundin ein Doppelzimmer zugeteilt und ich ein Einzelzimmer – ein Einzelzimmer! Das war ein Zimmer, in dem ein einzelnes Bett stand, ich meine: wie sollte ein fantasiegeplagtes Kind hier schlafen können? Zu Hause in unserer Zweizimmerwohnung teilte ich, 7, das Schlafzimmer selbstverständlich mit meiner Großmutter, ich wusste bis dahin nicht, dass es Zimmer gibt, in denen Menschen allein die Nacht verbringen. Falls die Freundin meines Vaters es auch nicht wusste, so musste sie es jetzt lernen, denn nachdem ich nicht aufhörte zu weinen, wurde die Zimmereinteilung in meinem Sinn geändert. Vater und ich im Doppelzimmer, Freundin im Einzelzimmer.

Zu diesem Zeitpunkt wusste ich allerdings noch nicht, dass mein Vater und seine Freundin einen teuflischen Plan ausgeheckt hatten: Sie gingen, nachdem ich im Speiseraum des Hotels verköstigt worden war, mit Pommes frites, etwas anderes aß ich natürlich nicht, ganz sicher nicht gebratenen Fisch mit! Gräten!, gemeinsam in ein Restaurant am Meer, um dort Krustentiere zu verzehren und Weißwein zu trinken. Ich hingegen musste im Halblicht meines Hoteldoppelzimmers bleiben – bei Dunkelheit konnte ich natürlich nicht schlafen – und versuchen, die unbekannten Geräusche zu dechiffrieren, die draußen auf dem Gang Gefahr signalisierten und Schlaflosigkeit, nämlich meine eigene, bis mein Vater endlich heimkam, ich glaube, es war schon fast zehn.

Wie ich mich aufs Schwimmen freute. Als ich am nächsten Tag meinen Vater aufweckte, war es schon halb sechs vorbei, wir wollten doch früh am Strand sein. Mein Vater grunzte, drehte sich um und schickte mich hinunter an den Hafen. Wenn der Zeitungsstand schon offen hat, kannst du dir ein neues Lustiges Taschenbuch kaufen.

Es gab aber kein Lustiges Taschenbuch, sondern nur die Micky Maus – es war eine Zeit, als deutschsprachige Zeitungen und Magazine noch selbstverständlich ans Mittelmeer geliefert wurden –, und ich weckte meinen Vater gegen sechs wieder, um seine Zustimmung zum Kauf der Micky Maus und die dafür nötigen jugoslawischen Dinar abzuholen. Wahrscheinlich hätte mir mein Vater in diesem Moment auch die Schlüssel des R4 gegeben, wenn die Chance bestanden hätte, dass ich damit schnell wieder nach Hause fahre.

Irgendwann kamen wir dann wirklich zum Schwimmen. Ich erinnere mich an die Anlegestelle, wo wir auf das Boot warteten, das uns zum Strand brachte. Der Duft der Föhren war berauschend, die Sonne stand hoch und spiegelte sich breit im Meer, und kurz bevor uns das Boot an unseren Bestimmungsort gebracht hatte, verriet mir mein Vater ein kleines, bis jetzt noch nicht besprochenes Detail: Wir fuhren an den FKK-Strand.

„Was ist FKK?“, fragte ich.

„Freikörperkultur“, antwortete mein Vater. „Wir gehen nackt baden.“

Ich begann zu weinen. Gerade erst hatte ich gelernt, mich zu schämen, und schon sollte ich mich vor den Augen fremder Menschen ausziehen, sogar die Unterhose! Ich wollte nach Hause. Das Meer war häßlich. Die Sonne war scheiße.

Als ich zu weinen aufgehört hatte, einigten wir uns auf einen Kompromiss. Heute würden wir mit Badehose baden, aber morgen…

Ich war einverstanden, erstmal mit heute.

Natürlich war der Strand hier felsig und unwegsam, und die Freundin meines Vaters holte sich beim Klettern eine lange Schramme am Knie. Ich verstand nicht, warum sie mich so sauer anschaute, sie war doch selbst schuld, wenn sie nicht klettern konnte. Das Meer war noch salziger als versprochen, es brannte in den Augen, aber im Wasser schwebte ich, wie ich das im Schwimmbad daheim noch nie erlebt hatte. Ich war begeistert. Mein Schwänzlein war erstklassig in der Badehose verborgen. Die Freundin meines Vaters stieg auf einen Seeigel. Wir mussten zurück zum Inselarzt, die Stacheln entfernen. Beim Zurückklettern holte sie sich auch am anderen Knie eine lange Schramme. Sie tat mir leid. Ich gestattete ihr, die Nacht bei meinem Vater im Doppelzimmer zu verbringen.

So wurde ich erwachsen. Lernte, allein in einem Zimmer zu schlafen. Ging ab dem nächsten Tag nackt baden. Ich glaube, ich lernte sogar das Phänomen der Erektion kennen, sicher aber lag ich ewig lang am Bauch und ließ mir den Hintern braun brennen. Am Ende der Ferien waren die Schrammen an den Knien von Vaters Freundin verheilt. Gemeinsam ans Meer fuhren wir drei nie wieder.

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