Willkommen in der verrückten Welt von Keri Smith
Keri Smith ist ganz ohne Zweifel ein Weltstar, auch wenn ihr Name nicht vielen Menschen geläufig ist. Ihre Bücher – allen voran das stilprägende „Wreck this journal“ (deutsch: „Mach dieses Buch fertig“, Verlag Antje Kunstmann) – haben Millionenauflagen erreicht, das Genre des interaktiven Buchs begründet, und ihre Leserinnen und Leser sind mehr als loyale Bewohner der merkwürdigen Lebenswelten, zu denen Keri ihnen die Türen öffnet.
Ebenso merkwürdig wie ihre Kreationen ist freilich Keri selbst. Sie weigert sich schlicht, ein Star zu sein. Statt nach gutem, altem Popverständnis ihren Erfolg mit einem strategischen Konzept für Öffentlichkeitsarbeit zu mehren und zu kapitalisieren, folgt sie einem Prinzip, das sie WWFD nennt: „What would Fugazi do?“
Fugazi waren, kleine Erinnerungsstütze, eine höchst populäre Postpunk- und Hardcoreband der achtziger und neunziger Jahre, die sich dem Kommerz der Musikindustrie entschieden verweigerte. Fugazi unterschrieben nie bei einem großen Label, verkauften ihre Konzertkarten billig, damit sie sich jeder Fan leisten konnte, und machten für nichts und niemanden Werbung, nicht einmal für sich selbst. Der Schriftsteller Jonathan Safran Foer nannte Fugazi in seinem Roman „Hier bin ich“ „die großartigste Band, die es je gab, und zwar in jeder Beziehung. Ihre Musik war großartig. Ihr Ethos war großartig.“
Als „Mach dieses Buch fertig“ durch die Decke ging, wurde Keri Smith mit Anfragen verschiedenster Absender bombardiert. Wäre sie lächelnd durch all die Fernsehstudios gegangen, in die sie eingeladen war, und hätte sie den zahllosen Kultur-, Frauen- und Jugendzeitschriften, die an ihren Lippen hingen, gegeben, was sie wollten, dann wäre ihr Gesicht in den diffusen Allgemeinbesitz übergegangen, in dem auch Hollywoodstars und Fußballer stehen.
Aber Keri fragte sich: WWFD? Statt sich als neuen Superstar ausrufen zu lassen, füllte sie ihren Blog mit rasiermesserscharfen Absagen. Nun ist es bereits ein vitaler Beweis für Widerspenstigkeit, sich den Spielregeln der Branche zu widersetzen und freiwillig auf Ruhm, Anerkennung und in Summe: Geld zu verzichten. Keri Smith macht freilich – auch das ist typisch für sie – gleich eine Theorie daraus: „Unserer Kultur fehlt es entschieden an Leitfiguren, die vorzeigen, wie man in einer Kultur des Massenkonsums und allgegenwärtigen Ausverkaufs seine Integrität bewahren kann.“
Dem Gedanken wohnt natürlich ein kleiner Denkfehler inne, denn was hätte die Allgemeinheit von Leitfiguren, die keiner kennt? Okay, Keri Smith hat sich nicht dazu entschlossen, ein zweiter Salinger zu sein und die Existenz von Presse und Öffentlichkeit schlicht zu ignorieren. Aber es ist die Ausnahme und nicht die Regel, dass sie Interviews gibt, und wenn schon Interviews, dann gründlich, sagt sie, das braucht aber vielleicht ein paar Tage, ich soll also ein bisschen Zeit mitbringen, wenn ich sie besuche.
Durch Keris Garten in Florence, Massachusetts, toben ihre beiden Kinder. Jedes hat ein Buch in der Hand und versucht es zu zerstören. Ich höre das Reissen von Seiten, sehe kleine Papierfetzen, die wie Schnee durch den Garten schweben, kriege mit, wie im Haus die Wasserleitung aufgedreht wird und das euphorische Kreischen der Kinder meldet, dass die Bücher jetzt eine Dusche verpasst kriegen.
Keri strahlt. Die Bücher – farbige Neuausgaben ihres Bestsellers „Wreck this journal“ – sind gerade mit der Post eingetroffen und werden jetzt von ihren Kindern bearbeitet, zum ersten Mal. Als das Buch 2007 erschien, waren sie noch nicht auf der Welt.
Im ersten Stock des Hauses geht das Fenster auf, zwei Kindergesichter erscheinen.
„Darf ich wirklich?“, fragt Keris Sohn vorsichtig.
„Na klar“, antwortet sie und schaut glücklich dabei zu, wie sein Exemplar die Flugreise in den Garten antritt, dicht gefolgt von dem seiner Schwester und dem zweistimmigen Freudengeheul der beiden.
Und nein, die beiden Kinder von Keri Smith sind nicht übermütige, verwöhnte Fratzen einer Künstlerfamilie, denen nichts heilig ist, nicht einmal die Bücher ihrer Mutter, sondern sehr besonnene, höfliche junge Menschen. Eigentlich folgen sie nur den Anweisungen ihrer Mutter.
Denn „Mach dieses Buch fertig“ empfängt uns schon mit der verstörenden Anweisung: „Brich den Buchrücken“. Es folgt eine Reihe von gleichlautenden Befehlen:
„Bohre mit einem Bleistift Löcher in diese Seite“.
„Verreibe, verschmiere, verspritze dein Essen. Benutze diese Seite als Serviette.“
„Lutsche bunten Süßkram. Lecke diese Seite ab.“
Und dann, wie gerade beobachtet: „Möglichst hoch hinauf klettern. Das Buch fallen lassen.“
Unten angekommen: „Ziehe diese Seite in den Schmutz.“ Und wenn es keine Alternative mehr gibt: „Nimm dieses Buch mit unter die Dusche.“
Klar, man kann diese Aufforderungen einfach lesen und darüber schmunzeln. Aber was passiert, wenn man sie wirklich ausprobiert wie gerade Keris Kinder?
Die Antwort auf diese Frage ist essentiell. Sie hat viel mit Keris Biographie zu tun, aber auch mit der Überzeugungskraft ihres Mannes Jefferson Pitcher. Jeff hat Keri darin bestärkt, Dinge zu tun, vor denen jeder normale Mensch zurückschreckt. Er selbst ist Meister dieser Disziplin.
Einmal ging er zum Beispiel zum Klassentreffen an seiner alten High School in Berkeley: nackt. Er wollte aber nicht nur aktionistisch das Gelächter der Kollegen abstauben, sondern die Verwandlung eines Skandals in Normalität vorexerzieren. Er hatte sich vorgenommen, mindestens zwei Stunden am Tisch zu sitzen, ohne auch nur die Unterhose wieder anzuziehen.
Jeff ist noch heute begeistert, wenn er davon erzählt, wie seine Nacktheit zuerst amüsierte, dann alle nervte und schließlich unsichtbar wurde. „Dieser Transformationsprozess“, sagt er, „macht konzeptionelle Kunst in ihrem Kern aus.“
Keri bestätigt das. Sie hat den Transformationsprozess auf ganz andere Weise kennengelernt. Als Jeff aus der Sonne Kaliforniens nach Flesherton, Ontario, zog, wo sie damals wohnte, und entsetzt war über die Kälte, die Dunkelheit und die Langeweile in dem kleinen Dorf, dachte er sich eine aktionistische Selbsttherapie aus. Die Idee bestand im Wesentlichen darin, abends an Straßenkreuzungen zu gehen und zu Musik aus Kopfhörern, die für niemand sonst zu hören ist, möglichst wild und ekstatisch zu tanzen. Im Kurzfilm, den man unter dem Titel „The Winter of Dance“ auf YouTube findet, sieht man Jeff und seinen Buddy Mike Schwarz, wie sie tanzen, umfallen, zucken, sich im Schnee wälzen, lachen, ausflippen.
Schließlich tanzte auch Keri mit. Sie überwand sich, setzte sich der Peinlichkeit aus, vor ihren alten Nachbarn und den Menschen, bei denen sie tagsüber Milch und Brot kaufte, im Schnee herumzukugeln.
Der „Transformationsprozess“ entschädigte sie dafür: Sie vergaß das Rundherum, tauchte in den Rhythmus ein, verschmolz mit der Musik. Das Konzept, vor aller Augen etwas Ungewöhnliches zu tun, hatte sie belastet. Es getan zu haben, nahm mehr Gewicht von ihren Schultern, als sie sich aufgeladen hatte und entschädigte sie mit dem substantiellen Gefühl von Freiheit.
Sie begann darüber nachzudenken, wie sie dieses erlösende Freiheitsgefühl als Künstlerin festhalten und weitervermitteln könnte. Dieser spezifische Gedanke war die Grundlage für „Mach dieses Buch fertig“ – und viel später, als das Konzept seine Wirkung entfaltete, auch der Grund für dessen durchschlagenden Erfolg bei zahllosen Menschen. Die Bewältigung der scheinbar albernen Aufgaben ermöglichte ihnen einen „Transformationsprozess“, den sie als essentiell empfanden, als befreiend, als erlösend.
Keri Smith selbst ist, seit sie Kind war, auf der Suche nach Erlösung. Sie wuchs in einem Dickicht von Traumata in Toronto auf. Als sie acht war, erkrankte ihre Mutter an Krebs. Keri vergötterte ihre Mutter Marianne, die aus Neufundland stammte, weil sie alles konnte: Sie schneiderte ihre Kleider selbst, richtete das Haus ein, beherrschte jeden Handgriff, der im täglichen Leben von Bedeutung war.
Marianne sagte ihren Töchtern nichts von ihrer Diagnose. Ohne Erklärung erlebten die beiden mit, wie ihre Mutter mit dem Tumor, der in ihrer linken Hirnhälfte saß, kämpfte und sich sukzessive in eine andere Person verwandelte.
Keri war störrisch. Sie fand in der Schule kaum Anschluss, ritzte sich mit Rasierklingen und rauchte mehr Dope als ihr gut tat. Sie trug ausschließlich schwarze Kleider, kleisterte sich die Augen mit Wimpertusche zu und hörte vor allem die lebensüberdrüssigen Songs von „Joy Division“. Sie litt darunter, dass sie mit niemandem über ihre Mutter sprechen konnte, deren Verhalten immer befremdlicher wurde. Eines Abends trank Keri zwei Flaschen des Schmerzmittels Tylenol und ließ sich ins Spital einliefern. Ihr Schuldirektor sagte ihr ins Gesicht: „Du vermasselst alles.“ Sie glaubte ihm.
Ein Glück, dass ihr ein anderer Lehrer namens Bryant Griffith prognostizierte, sie werde von allen seinen Schülerinnen und Schülern den größten Erfolg haben. Als ihn Keri fragte, warum, antwortete er: „Weil du eigenständig denken kannst“. Er empfahl ihr, auf die Kunstschule zu gehen.
Heute sagt Keri Smith: „Der Mann hat mich gerettet!“
Die Rettung dauerte aber noch ein bisschen, weil Keri zuerst noch die Schule abbrach und stattdessen in einer Buchhandlung zu jobben begann. Dort machte sie sich zuerst mit den traumtänzerischen Büchern von C.S. Lewis, Madeleine L’Engle oder Robert Pirsig vertraut, dann ließ sie sich von einer Kollegin die Leseliste für das Literaturstudium geben und fand heraus, dass die Klassiker von Jane Austen, William Thackeray oder Ernest Hemingway genauso anregend waren. In den Epen von Tolstoi und Dostojewski versank sie. All die Bücher, von denen sie immer gedacht hatte, sie seien zu hoch für sie, waren gar nicht zu hoch für sie.
„In diesem Moment begriff ich“, sagt Keri, „dass vielleicht gar nicht ich die Fehlerquelle gewesen war. Sondern all die anderen, die mir eintrichterten, dass ich nichts verstehe. Hatte nicht am Ende ich Recht und nicht sie? Konnte in einer magischen Welt vielleicht ausgerechnet ich die Dinge sehen, die niemand außer mir sehen kann?“
Der Tumor von Keris Mutter dehnte sich auf ihr Sprachzentrum aus. Sie verlor ihren Zugang zu Worten. Nur wenn sie sang, konnte sie Formulierungen aus anderen Regionen des Gehirns extrahieren. Es muss grotesk gewesen sein: Eine todkranke Frau sang ihrer schwarz gekleideten, depressiven Tochter fröhliche Lieder vor, um ihr wenigstens irgendwas sagen zu können.
Keris Vater ertrug das nicht. Er begann eine Beziehung zu einer anderen Frau. Er verheimlichte nichts. Dass der Vater die kranke Mutter vor deren Augen mit einer gesunden Frau betrog, war für Keri genauso schwer zu verkraften wie der Verfall der Mutter selbst. Ihre Schwester hielt sich raus. Sie ging lieber mit Justin Trudeau, dem heutigen Premier Kanadas, zum Snowboarden. In ihrer Familie musste Keri die Erwachsene sein.
Sie begann zu illustrieren, es war ein Mittel gegen den Schmerz. In dieser Zeit entdeckte sie ein Schlupfloch im kanadischen Schulsystem. Als „Mature Student“ bewarb sie sich um einen Studienplatz am Ontario College of Art & Design (OCADU), indem sie einen fulminanten und ungeschminkten Essay über die Gründe schrieb, warum sie Kunst studieren wollte. Sie wurde aufgenommen.
Gleich im ersten Jahr belegte Keri einen Kurs in Konzeptkunst. Ihre Lehrerin hieß Shirley Yanover. Shirley war etwa 1,50 groß und hatte ihre Haare nach Punkversion hochtoupiert. Als sie die Klasse betrat, befahl sie ihren Schülerinnen und Schülern, sich bitte unter ihre Tische zu begeben. Dann verließ sie das Klassenzimmer.
Als sie zurückkam, hockten ihre Schülerinnen noch immer unter dem Tisch. „Steht auf, Leute“, sagte Professor Yanover. „Ihr habt gerade erlebt, wie Schule ab heute für Euch aussehen wird. Es wird jeden Tag etwas Neues passieren, sonst entsteht ja nichts Interessantes.“
Keri sagt: „Ab diesem Tag rannte ich buchstäblich in die Schule. Shirleys Worte sind zu einer Lebensmaxime für mich geworden.“
Denke Kunst konzeptionell. Denke Kunst interdisziplinär. Das waren die ersten Lehren, die sie von der Uni mitnahm. Keri nahm an einem Wettbewerb für junge Illustratoren teil, gewann und bekam den Auftrag, für die „Canadian Opera Company“ eine Präsentation zu entwickeln.
Statt einer Serie von Plakaten, wie sie die Opera Company erwartete, gab Keri eine dreidimensionale Box ab, in der sie die beiden Opernhäuser präsentierte.
Das war ein Volltreffer, aber die nächsten Jobs, die hereinschneiten, waren es nicht. Keri sollte Artikel in Computerzeitschriften illustrieren, die sie nicht interessierten. Sie ärgerte sich über die Vorschriften der Bildredaktion, die ihr gewisse Farben verboten, damit ihre Zeichnungen nicht die Anzeigen auf der Gegenseite störten.
Im berühmten Bookstore von Nicholas Hoare in Toronto fand Keri Trost. Sie liebte den dunklen Raum, der nach Papier und Bildung roch, die teuren Kunstwerke an den Wänden, die Chesterfield-Sofas, auf denen Tagediebe in dicken Büchern blätterten. Die Buchhandlung war aufgeladen von der Präsenz der besonderen Menschen, die sich hier trafen. Michael Ondaatje. Margaret Atwood. Keri hatte den drängenden Wunsch, diesem Club anzugehören.
Dabei hatte sie gar nicht das Bedürfnis, Literatur zu schreiben. Sie mochte nur Bücher. Mit besonderer Aufmerksamkeit betrachtete sie die Exemplare, die neben der Kassa lagen und lustige, unkonventionelle Themen hatten. Die, dachte sie, könnten ein interessantes Vehikel sein, um die reale Welt mit einer imaginären Welt zu torpedieren, so wie sie es bei Shirley Yanover gelernt hatte.
Bei Umberto Eco stieß sie auf eine Theorie, die sie elektrisierte. Eco erkannte in der gegenwärtigen Kunst Tendenzen, „das Publikum als Gestalter mit einzubeziehen oder den Interpreten zu schöpferischer Produktion anzuregen“. Das bezeichnete er als „Ästhetik oder Poetik des offenen Kunstwerks“.
Keri setzte die Theorie des offenen Kunstwerks und ihre Vorliebe für Bücher zu einem ersten Versuch zusammen. Ihre „Story in a Box“ erzählte die Geschichte von Cinderella neu, samt Storyboard und Papierpuppen, und es bedurfte einer gewissen Weitsichtigkeit, darin mehr als ein Kinderspielzeug zu erkennen. Für das nächste Buch „Living out Loud. Activities to Fuel a Creative Life“ bekam sie einen Vorschuss von zehntausend Dollar. Aber es dauerte fünf Jahre, bis der Verlag sein Geld zurückverdient hatte.
Keri bekam den Rat, etwas Gefälligeres zu machen. Das fand sie zum Kotzen. Stattdessen gab sie ein „Guerilla Art Kit“ heraus, in dem sie dazu anregte, unkonventionelle Verbreitungsmethoden für Kunstwerke zu suchen, zum Beispiel auf Gehsteigen, Stickern, Posters, Flugblättern, Graffitis, kleinen Einträgen in Büchern, die man sich in der Bibliothek ausgeborgt hat, als Flaschenpost, Geschenke oder Müll.
Nur ein kleiner Collegeverlag ließ sich darauf ein. Keri begann sich damit abzufinden, dass sie ein typisches Künstlerleben führen würde, von der Hand in den Mund, verkannt, randständig. In ihrem Trotz formulierte sie ihr herrlich sarkastisches Traktat „Wie man als Künstler unglücklich ist“, um vor allem sich selbst zu trösten:
„Vergleiche dich selbst dauernd mit anderen Künstlern“ – „Mach deine komplette Karriere von einem einzelnen Projekt abhängig“ – „Begnüge dich damit, was du schon weißt“ – „Unterschätze dich selbst“ – „Mache nur Arbeiten, die deiner Familie gefallen“ – „Setze dir unerreichbare Ziele. Zu erreichen bis morgen“.
Ihre Mutter starb. Keris kanadisches Privatleben lag in Trümmern.
Sie suchte nach Nischen und fand das Internet. Sie setzte auf kerismith.com ihren Blog auf, auf dem sie viele ihrer Beobachtungen, Fundstücke und Ideen ausprobierte, tief davon überzeugt, es mit einem grundehrlichen, demokratischen Medium zu tun zu haben.
Die Offenherzigkeit und Virtuosität, mit der sie ihren Lesern Alternativen zum konventionellen Konsumleben ans Herz legte – siehe: Wie man als Künstler unglücklich wird“ –, produzierte drei wesentliche Reaktionen. Erstens: Der Blog war schnell extrem erfolgreich. Zweitens: Keri wurde mit Hassbotschaften überhäuft. Drittens: Jeden Tag meldeten sich Unternehmen, die auf dem Blog werben wollten.
Sie reagierte dogmatisch und stur: Fuck off. Empfahl den Besuch von Websites ohne Werbung. Riet, das Fernsehen aufzugeben. Veröffentliche Gebrauchsanweisungen, wie man Ad-Blocker installiert. Forderte ihre Leserschaft auf, ihre Werte neu zu definieren. Das übertitelte sie dann mit: „Wege, unsere Abhängigkeit von Konzernen zu reduzieren (und von der allgegenwärtigen Werbung)“.
Zu dieser Zeit lernte sie ihren heutigen Mann kennen. Die Geschichte, wie sich Keri Smith und Jefferson Pitcher trafen, könnte von einer Serienautorin wie Lena Dunham stammen, abwegig, wie sie ist.
Eine Bekannte in Toronto hatte Keri von einem jungen, sehr speziellen Mann namens Jeff in Kalifornien erzählt. Die junge, sehr spezielle Keri schrieb Jeff versuchsweise ein Email. Jeff antwortete. Es entspann sich ein Dialog, der so interessiert und offen und magisch war, dass unversehens das Innenleben der beiden Schreibenden blank lag.
„Wir lernten unsere Seelen kennen, bevor wir uns zum ersten Mal sahen“, sagt Keri.
Jeff nickt, keine Angst vor Pathos.
Als die beiden sich dazu durchrangen, das erste Mal miteinander zu sprechen, dauerte das Gespräch genau so lang, bis der Akku des portablen Telefons leer war. Obwohl beide liiert waren, flog Keri nach San Francisco. Jeffs engster Freund Michael Schwartz holte sie vom Flughafen ab, Jeff wollte nicht, dass die erste Begegnung mit Keri im seelenlosen Ambiente einer Ankunftshalle stattfindet.
Michael kutschierte Keri im Auto zum Tilden Park in Berkeley. Sie war so nervös, dass die Scheiben des Autos von innen beschlugen. Michael hielt am Parkeingang und ließ Keri aussteigen. Jeff wartete auf einem kleinen Hügel im Park. Die beiden umarmten sich mehr als eine Stunde lang. Als sie heirateten, hatten sie einander erst fünfmal gesehen. Ihren Sohn, der ein Jahr später zur Welt kam, nannten sie – nach dem Park, wo sie sich getroffen hatten – Tilden.
Vor Keris Haus in Florence steht ein windschnittiger Camper aus Holz, auf deutsch: ein Wohnwagen. Keri liebt den Camper. Der Camper bringt ziemlich viel auf den Punkt, worüber sie mit sich selbst einig geworden ist. Erstens: Er ist klein, aus Holz, nachhaltig erzeugt. Die Innenausstattung haben Jeff und sie komplett selbst besorgt, inklusive dem Ökoklo, das vor diesen Ferien eingebaut wurde. Zweitens: Er ist eine Metapher für Unabhängigkeit.
Den Standort Florence haben Jeff und Keri buchstäblich auf der Karte ausgewählt: Nicht zu weit von den Großstädten, nicht zu weit vom Meer, in der Nähe akademischer und künstlerischer Communitys, an die man andocken kann. Kein zu großes Haus, kleiner ökologischer Fußabdruck.
Im Nachbarort Northampton gibt es mehrere Universitäten, zum Beispiel das Smith-College, und meine dämliche Frage, ob das College nicht nach ihr benannt sei, lächelt Keri nachsichtig weg, sie hat es nicht so mit Kalauern. Keri ist, obwohl sie unzählige Menschen zum Lachen gebracht hat, eine sehr ernsthafte Person.
In der Nachbarschaft stehen prächtige, weiß gestrichene Holzhäuser in gepflegtem Rasen und verströmen soviel Respekt, dass die Gärten nicht einmal einen Zaun brauchen. An vielen Fassaden sind Transparente mit dem kämpferischen Motto „Black Lives Matter“ angebracht. Auffällig viele junge Frauen gehen händchenhaltend durch den Ort. Am Abend, als Trump gewählt wurde, lagen sich hier wildfremde Menschen in den Armen, die einander die Tränen trockneten.
Nach dem Vorbild ihrer Mutter stellt Keri möglichst viele Dinge mit ihren eigenen Händen her. Aber im Gegensatz zu ihrer Mutter leitet sie eine Theorie daraus ab. Wenn sie einen Pullover strickt, eine Hose näht oder den Camper mit selbstgemachten Klapphockern ausstaffiert, ist das, wie sie betont, auch eine politische und künstlerische Manifestation.
Weil sie Programme mag, nennt sie das „Opting out“: „Aussteigen“. In ihrem Essay „Bewältigungsmechanismen eines Künstlers im Zeitalter der politischen Unruhen“, den sie schrieb, nachdem Donald Trump amerikanischer Präsident wurde, zitiert Keri Gesinnungsgenossen von Henry David Thoreau bis zu Lee Lozano und natürlich Fugazi. Programmatisch erklärt sie, was der „Akt der Herstellung“ für sie bedeutet: den „Imperativ meines Seins als erfolgreiches und produktives menschliches Wesen“.
Das verbindet sie zu hundert Prozent mit ihrem Mann. Jeff hat sich neben dem Wohnhaus eine helle, freundliche Werkstatt eingerichtet. Er ist experimenteller Musiker, kommt aus der Schule von John Cage und Pauline Oliveiros, was bedeutet, dass er Geräuschen jeder Art lauscht und sie möglicherweise zu Musik erklärt. Als Gitarrist hat er eine profunde Ausbildung genossen, und weil er die Instrumente, die er spielte, sozusagen inwendig kennenlernen wollte, entschloss er sich vor ein paar Jahren, selbst Gitarren zu bauen. In der Werkstatt darf ich auf einem der Werkstücke ein paar Akkorde anschlagen. Der Klang ist fein, aber noch spektakulärer ist das Leuchten in Jeffs Augen. Nicht wahr, sagen die Augen, der Hammer? Der Hammer!
Denn Jeff und Keri stimmen völlig überein, dass erst nach der fälligen Entscheidung für das „Opting Out“ der substantielle Spaß beginnt. Was soll besonders sein am Sound einer nagelneuen Gibson-Gitarre, verglichen mit dem Klang der Stahlsaiten, die man über einen selbst entworfenen und gefertigten Korpus aus Zedernholz aufzieht? Auch in Keris Büchern wohnt die Essenz nicht in den witzigen Layouts und den gelungenen Formulierungen, sondern in der fabelhaften Wirkung, die diese auf den Betrachter ausüben.
Keri schrieb „Mach dieses Buch fertig“, als sie dreißig war. „Ich schrieb es nicht für andere“, sagt sie. „Ich schrieb es für mich. Das Rebellische, das im Buch steckt, hatte eine enorme Wirkung auf mich.“
Sie schrieb die Ideen, die ihr kamen, in ein altes Moleskine-Notizbuch, in Großbuchstaben. „Großbuchstaben“, sagt Keri und zitiert den Mechaniker und Philosophen Matthew Crawford, „verlangsamen den Lesefluss und den Denkprozess.“
Crawford hat Keri mit seinem Buch „Die Wiedergewinnung des Wirklichen“ stark beeindruckt. Eine seiner wesentlichen Thesen lautet: „Heute sind wir Aufklärer, wenn wir uns durch erlernte Fertigkeiten in der Welt verankern“. Über diesen Gedanken improvisiert Keri, in Großbuchstaben.
„KRAME DIE FUSSELN AUS DEINER HOSENTASCHE. KLEBE SIE HIER EIN.“
„DOKUMENTIERE DIE VERSTREICHENDE ZEIT.“
„FLUTE DIESE SEITE.“
Als sie das volle Moleskine-Buch, das schon ziemlich angegriffen war, ihrer neuen Agentin Faith Hamlin zeigte, einem Urgestein der New Yorker Verlagsszene, war Faith aus dem Häuschen. Sie fand innerhalb eines Tages einen Verlag für „Wreck this Journal“. Keri bekam 15.000 Dollar Vorschuss und fühlte sich reich.
Dann geschah überraschenderweise: nicht viel.
Das Buch erschien. Es gab keine Rezensionen. Die Verkaufsmeldungen waren durchschnittlich, weder ganz schlecht noch sehr gut.
Aber dann ertönte, tief in den Abgründen der sozialen Medien, ein vitales Grollen. Menschen, die das Buch gekauft hatten und Keris Anweisungen beim Wort nahmen, dokumentierten, was sie mit dem Buch angestellt hatte. Witzige, einfallsreiche, schicksalhafte Versionen von „Mach dieses Buch fertig“ tauchten auf, wurden kommentiert, gemocht, weitergeleitet. Keris Grundgedanke, dass ihr Buch mit der ersten Intervention eines Lesers, einer Leserin, zum individuellen Kunstgegenstand wird, der nicht mehr ihr, sondern dem Intervenierenden gehört, erwies sich auf erschütternde Weise als richtig.
Der Umgang mit „Mach dieses Buch fertig“ wurde zu einer regelrechten Grassroots-Bewegung von seelischen Aktivisten. Zahllose Reaktionen sind in den zehn Jahren, seit das Buch inzwischen draußen ist, bei Keri eingetroffen. Viele stammen von jungen Frauen, die so wie sie selbst immense Probleme hatten, mit sich zurechtzukommen, und denen das Buch Halt gab – vermutlich weil es genau diesen Halt in keiner Silbe versprach, aber Ideen anbot, die ihn spürbar machen. Das hatte Keri nicht einmal geahnt, als sie die Gebrauchsanweisung zu ihrem Buch verfasste: „Bei der Arbeit an diesem Buch machst du dich möglicherweise schmutzig. Du wirst womöglich zu Handlungen aufgefordert, die dir mehr als fragwürdig erscheinen. Es könnte sein, dass du plötzlich überall schöpferische Zerstörung entdeckst. Möglicherweise macht es dein Leben spannender.“
Als ich sie in einem überfüllten Café in Northampton nach dem Geheimnis ihres Buches frage, denkt Keri lange nach. „Das Zerstören“, sagt sie dann, „hat einen spirituellen Kern. Wenn du es zulässt, kann es viel mehr bedeuten als nur Seiten in einem Buch zu verwüsten. Dann ist dieses Buch eine Atempause, ein Rückzugsort, ein sicherer Hafen, eine Naturgewalt, eine Herausforderung, eine Stimme, eine Befreiung, ein Ventil, ein Freund, eine körperliche Erfahrung, eine Mutprobe, ein Geheimnis, ein Werkzeug, eine Therapie, eine Explosion.“
So könnte man auch diese Ausgabe des Magazins benutzen, wenn man Keri Smith folgen möchte. Alles Nötige steht auf der Titelseite.
„Mach dieses Buch fertig“ wurde sukzessive zu einem internationalen Bestseller, und Keri Smith schrieb an der Essenz des Werkes weiter. Sie legte „Das ist mehr als ein Buch“ nach, dann „Wie man sich die Welt erlebt“, „Mach Mist“, „Mein wildes Buch“, den „Sachensucher“, „Meine Welt“: eine Serie von „offenen Kunstwerken“, die sich programmgemäß selbstständig machten. Die Bücher kursierten nicht nur in Buchhandlungen, Concept Stores, Museumsshops und allen möglichen anderen Orten, sondern vor allem im Internet, und wurden insgesamt über sieben Millionen Mal verkauft.
Immer, wenn sich die imaginären Welten der Bücher mit realen Lebenswelten zu überschneiden beginnen, fühlt sich Keri bestätigt. Auf einem unserer Spaziergänge durch die Wälder von Northampton, eingehüllt in eine Wolke aus Insektenspray, weil die lästigen Zecken gerade Hochsaison haben, erklärt sie mir, warum sie „literarische Trickster“ liebt.
Zum Beispiel, wie Italo Calvino in seinem Roman „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“ den Leser, der die Buchhandlung betritt, um Italo Calvinos Roman „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“ zu kaufen, sofort zur Hauptfigur seiner Geschichte macht. Oder wie Georges Perec erzählt, dass er in einer fast leeren Wohnung einen Roman über einen Perlenhändler schreibt, der verloren geht, während ein langer Brief erhalten bleibt, in dem der Roman erstaunlich genau skizziert ist. Ist das nun der Roman selbst oder nur die Imagination des Romans, also die Imagination einer Imagination?
„Das könnte von mir sein“, schreibt Keri in einem Email, in dem sie mir das Perec-Zitat schickt.
Gleich ein paar Mal erzählt sie davon, wie sehr sie den Komiker Andy Kaufman bewundert, dessen verwirrende Performances sie für konzeptionelle Kunst hält. Der Comedian Kaufman trat manchmal verkleidet als sein eigener Anheizer auf und ließ das Publikum über seine wahre Identität stets im Zweifel. Selbst als er unheilbar an Krebs erkrankte, ventilierte er in seinen letzten Lebensmonaten die Legende, es handle sich dabei nur um einen kunstfertigen Vorwand, um aus der Öffentlichkeit zu verschwinden. Bis heute wird darüber gemutmaßt, welche Geschichte wahr und welche erfunden ist, ob Andy Kaufman tot oder doch noch am Leben ist.
„Genau dieses Spiel mit dem Zweifel“, sagt Keri, „empfinde ich als große Kunst.“
Wir gehen einem malerischen Bachbett entlang, das zum Campus des Smith College führt. Hier tauchen, erzählt Keri, immer wieder Botschaften ei ominösen „Wander Society“ auf. Diese „Wander Society“ habe sie kennengelernt, als sie in einem Antiquariat in Walt Whitmans berühmtem Gedichtband „Grashalme“ blätterte.
„Auf die Titelseite war ,Solvitur ambulando’ gekritzelt und darunter „WANDER SOCIETY“ und ein kleines Blitzsymbol“, sagt sie. „Als ich das Buch durchblätterte, entdeckte ich einige unterstrichene Passagen und noch andere interessant aussehende Symbole an den Rändern.“
Sie begann zu recherchieren. „Solvitur ambulando“ heißt: „Es wird im Gehen gelöst“. Bei Walt Whitman fand sie den passenden Hinweis: „Wenn du mich wieder brauchst, so suche mich unter deinen Stiefelsohlen“. Ihr fiel auf, wie oft in der Literatur vom Gehen die Rede ist.
„Ein extrem hoher Prozentsatz von Denkern, Schriftstellern und Philosophen im Lauf der Geschichte waren begeisterte Wanderer. Sie nutzten zielloses Umherstreifen als Quelle und Anregung für ihre Arbeit.“ Keri begann sich zu fragen, ob Wandern die Kreativität anregt, oder mehr noch, ob es uns „Zugang zu tieferen Bewusstseinsebenen verschafft.“
Im Internet stieß sie auf einen Kulturanthropologen namens J Tindlebaum, der sich seit geraumer Zeit mit dem Wirken der „Wander Society“ beschäftigt. Sie nahm Kontakt zu ihm auf und erfuhr, dass die Gesellschaft ihre Mitglieder zum ziellosen Gehen animiert, zum Vertrödeln von Zeit und zur bewegungsfrohen Meditation.
Logisch, dass ihr das gefiel. Sie beschloss, ihr nächstes Buch der „Wander Society“ zu widmen.
Tindlebaum bestärkte sie darin. Er erklärte sich sogar bereit, das Vorwort zu schreiben. Darin gab zu, dass er die Drahtzieher der Wander Society noch nicht enttarnt habe, aber ihre Ziele ziemlich genau definieren könne: Wandern. Trödeln. Sammeln. Denken.
In Keris Buch „The Wander Society“, deutsch: „Mach dich auf“, entstand daraus klarerweise ein Programm. „Wandere jeden Tag“ – „Wohin spielt keine Rolle“ – „Frage dich: Was kann ich entdecken?“ – „Stell alles infrage, was man dir beigebracht hat“ – „Vertraue deiner Intuition“ – „Stärke dein ungezähmtes Inneres“.
Seit Erscheinen des Buchs erhält Keri Botschaften und Hinweise aus aller Welt: Fotos, Notizen, bemalte Steine, Schnitzereien auf Baumstämmen, fotografiert irgendwo auf der Welt, adressiert an sie, da sie ja zur Schriftführerin der Gesellschaft geworden ist.
Könnte natürlich auch sein, dass das alles gar nicht stimmt. Vielleicht ist nicht Keri Smith auf die Wander Society gestoßen, sondern die Wander Society auf Keri Smith. Vielleicht weiß Professor Tindlebaum mehr über die Gesellschaft als er zugeben möchte, und vielleicht ist Keri mehr im Kopf des Professors zuhause als er selbst.
Vielleicht hat Keri die geheimen Botschaften, die hier am Campus des Smith College und in den Buchhandlungen Northamptons aufgetaucht sind, auch gar nicht gefunden, sondern hinterlassen, und vielleicht ist das Blitzsymbol, das sie auf der Titelseite von Walt Whitmans Gedichtband entdeckt hat, der kleinen, feinen Tätowierung nachempfunden, die sie am Unterarm trägt, und nicht umgekehrt.
Große Kunst entspringt bekanntlich immer dem Spiel mit der Ungewissheit.