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Seiler kochtKolumnen

Die unscheinbare Vegetarierin

Erlauben Sie mir also, mich selbst zu zitieren (die Kolumne erschien im Herbst 2016. da waren viele von Ihnen noch gar nicht auf der Welt):

«Der preisgekrönte Roman der südkoreanischen Schriftstellerin Han Kang beginnt mit einem schlichten Satz. ‹Bevor meine Frau zur Vegetarierin wurde, hielt ich sie in jeder Hinsicht für völlig unscheinbar.›

Es ist der Auftakt zu einer furiosen Geschichte. Der Ich-Erzähler des ersten Teils, der Mann der unscheinbaren Heldin Yong-Hye, muss zur Kenntnis nehmen, wie sich sein ebenso unscheinbares Leben eines Morgens abrupt ändert. Statt dass seine Frau ihn weckt und ihm wie sonst das Frühstück auf den Tisch stellt, räumt sie das Gefrierfach des Kühlschranks aus.

‹Ich traute meinen Augen kaum. Sie kauerte in ihrem Nachthemd auf dem Boden, die Haare hingen ihr wirr ins Gesicht. Um sie herum war der Fußboden bedeckt von einer Ansammlung schwarzer und weißer Gefrierbeutel sowie einer beträchtlichen Anzahl an Plastikbehältern. Man konnte nirgendwo einen Fuss hinsetzen, ohne daraufzutreten. Die Gefrierbeutel enthielten Fonduefleisch, Schweinebauch, zwei Packungen Rinderfilets, Tintenfisch, Aal, den uns ihre auf dem Land lebende Mutter erst kürzlich geschickt hatte, gepökelten und mit gelben Fäden umwickelten Trockenfisch, Teigtaschen und eine Menge nicht erkennbarer Lebensmittel. Stück für Stück warf sie diese in einen großen Müllbeutel.›

Der Mann ist zuerst verwirrt, dann empört. Er verlangt von seiner Frau Rechenschaft, aber sie kann sich nicht rational rechtfertigen. Sie hatte einen Traum, einen blutigen Traum. Seit diesem Traum ekelt es sie vor Fleisch. Sie isst und kocht von heute auf morgen strikt vegetarisch, keine Spur mehr von den Speisen, die sie früher so virtuos zubereiten konnte:

‹Ihr frittierter Schweinebauch in einer Marinade aus Ingwer und Sirup war ein Gedicht. Oder eine ihrer Eigenkreationen: mit schwarzem Pfeffer und Sesamöl gewürzte feine Fleischstreifen, die sie in klebrigem Reismehl wälzte und briet. Ganz zu schweigen von ihrem Bibimbap. Dabei wurde der Reis erst eingeweicht, dann zusammen mit Rinderhack, Sesamöl und Sojasprossen gekocht. Von ihrem Hühnerragout konnte ich drei Teller essen. Das Beste daran waren die großen Kartoffelstücke und die sämige, süß-scharfe Soße..›

Aber Yong-Hye hat dem Fleisch abgeschworen. Sie isst lieber Kimchi.»

Ich habe Han Kangs Buch geliebt. Ich habe etwas über koreanische Küche gelernt, aber auch über das Wesen des Verzichts, über die Motive, die eigenen Vorlieben auf links zu drehen, über die Grammatik von Empathie und der Verständnislosigkeit, über die Kunst, literarisch und kulinarisch gleichzeitig zu schreiben, und natürlich über die Philosophie des Vegetarismus.

Ich kann ihr Buch «Die Vegetarierin» also aus tiefer, ausreichend dokumentierter Überzeugung empfehlen – und am Ende dieses literarischen Exkurses darauf hinweisen, dass ich in dieser Woche über Fleischbällchen geschrieben habe, und zwar über ausserordentlich köstliche Fleischbällchen.

Mit dieser kognitiven Dissonanz entlasse ich Sie und mich ins Wochenende. Gute Lektüre von Han Kang, gutes Gelingen am Herd,

Ihr Christian Seiler

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