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Seilers GemischtwarenKolumnen

Das Gänsegeheimnis

Nein, Sie haben nichts verpasst. Martini, also das Fest des Heiligen Martin von Tours, findet erst in rund einem Monat statt. Was aber bereits auf der Speisekarte aller möglichen Wirtshäuser und Restaurants steht, sind die Gansln, die man zu diesem Anlass schlachtet, brät und verzehrt, und das bringt mich gerade ein bisschen durcheinander.

Fangen wir beim Heiligen Martin an, der bekanntlich per Dekret des Heiligen Stuhles vom 10. 12. 1924 Nationalheiliger des Burgenlands ist. Das kam so: Martinus wuchs wohl in den Zehnerjahren des 4. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung als Sohn eines römischen Militärtribuns in Pannonien auf. Auf Wunsch des Vaters musste Martinus die Militärlaufbahn einschlagen, was die Voraussetzung für jene edle Tat ist, an die wir uns bis heute erinnern. Denn als Soldat der Kaiserlichen Garde war er nicht nur mit dem traditionellen Panzer ausgerüstet, sondern auch mit der Chlamys, einem Überwurf, der im oberen Bereich mit Schaffell gefüttert war.

Als Martin nun an einem kalten Wintertag vor dem Stadttor von Amiens einem armen, unbekleideten Mann begegnete, teilte er seinen Mantel und gab eine Hälfte dem frierenden Mann. In der Nacht darauf erschien ihm dann angeblich Jesus persönlich, bekleidet mit Martins halbem Mantel und dem unvergesslichen Spruch: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan…“

Martin ließ sich taufen, verließ das Militär, wurde Einsiedler, bekehrte seine pannonische Mutter zum christlichen Glauben, errichtete in Gallien das erste Kloster des Abendlandes und wurde schließlich Bischof von Tours. Um diese Ernennung ranken sich Legenden, die den Wirten zwischen Bayern und dem Südburgenland bis heute in die Karten spielen: Martin habe nämlich gar nicht Bischof werden wollen, weil er sich selbst dieses hohe Amt nicht zutraute. Deshalb habe er sich vor denen, die ihn ernennen wollten, in einem Gänsestall versteckt. Die Gänse jedoch, die bekanntlich aufmerksamer sind als mancher Wachhund, hätten ihn durch ihr Geschnatter verraten.

Klassische Lose-Lose-Situation. Martin musste wider Willen Bischof werden. Und die Gänse werden zum Dank für ihren Verrat aufgefressen, bis heute.

Bischof Martin lehnte es übrigens ab – und man hat eine Idee, wer diese Geschichte in Rom sehr aufmerksam gelesen hat – in der Stadt zu wohnen, Er zog eine Holzhütte vor der Stadtmauer vor. Er wurde 81 Jahre alt und, Achtung!, am 11.11. in Tours beigesetzt. Seither ist der Martinstag Martinstag.

Er hat allerdings nicht nur religiöse Bedeutung, sondern repräsentiert auch das Ende des Bauernjahrs. Als solcher ist er ein „Zinstag“, an dem die Bauern den Landeigentümern den Pachtzins zahlen mussten – zuweilen in Form von Gänsen. Auch die Mägde und Knechte, für die an diesem Tag das Arbeitsjahr endete, sollen zuweilen zum Lohn eine Gans geschenkt bekommen haben.

Es gibt also ausreichend viele gute Gründe, Gänse zu essen. Ich persönlich bin ja ganslmäßig Agnostiker, außer wenn Taubenkobel-Küchenchef Alain Weissgerber, im Elsass an der Verarbeitung von Gänsen geschult, dieselben zubereitet (gefüllte Gänsemägen war etwas vom Besten, was ich je gegessen habe). Ich billige allerdings den zahllosen Gänsen, die in den kommenden Wochen umgebracht, tiefgekühlt, gebraten und abgenagt werden, jenes Wort zu, mit dem sich Bischof Martin von der Erde verabschiedet haben soll: „Mortem non timeo, vivere autem non recuso.“

Den Tod fürchte ich nicht, aber ich lehne es auch nicht ab, weiterzuleben.

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