Der Zärtliche
Nigel Slater ist für mich mehr als eine kulinarische Autorität. Er ist ein Vertrauter. Wie jeder Autor, jede Autorin, deren Bücher ich regelmässig lese, ist er mir auf eine ganz spezifische Weise ans Herz gewachsen. Ich habe mich im Klang seiner Worte eingenistet und folge seinen Ideen voller Vertrauen.
Am Anfang hielt ich ihn vor allem für einen guten Lieferanten von Rezepten, einen wie – um ein besonders unpassendes Beispiel zu nennen – Jamie Oliver, ebenfalls ein Brite, der jedes Jahr ein Kochbuch auf den Markt bringt, wenn auch Slaters Bücher etwas lyrischere Titel haben als «30-Minute Meals».
Als ich Slaters erste Kochbücher, speziell das handliche «Eat. The Little Book of Fast Food» in Verwendung nahm, war mir noch nicht bewusst, über welche speziellen Talente dieser Mann verfügt – und damit meine ich nicht nur seine kulinarischen, sondern auch die literarischen, ich würde fast sagen philosophischen Fähigkeiten. Das änderte sich mit dem Erscheinen von «Tender», Slaters zweibändigem Meisterwerk.
«ten-der ’tender ‹engl. Adj.›: so zart, dass die Zähne leicht hindurchdringen; der Zustand, in dem etwas zum Essen bereit ist: die Blätter eines Bundes Spinat, eine reife Feige. Von weicher oder mürber Konsistenz. Nicht hart oder zäh. Reif. Empfindlich, heikel. Liebevoll. Zartfühlend. Mitgefühl, Freundlichkeit, Einfühlungsvermögen und Gefühl zeigend.»
So steht es auf dem Umschlag des ersten Bands aus dem Jahr 2012, in dem Slater erzählt, wie das Gemüse in seinem Garten austreibt, wächst und reif wird und was er damit tut, wenn es soweit ist. Das könnte auch in einem Bauernkalender stehen, ich weiss, aber hören Sie Nigel Slater erst einmal zu, wenn er sein Gemüse genau anschaut: «Die Schönheit eines einzigen Salats, seine inneren Blätter fest und knackig, die äusseren geöffnet wie die Blüten einer Bauerngartenrose; das glühende Safrangelb eines frisch geöffneten Kürbis; die gelockten Triebe einer Erbsenpflanze.»
Oder, anderes Beispiel, diese Etüde über den Grünkohl: «Aus der Ferne, sehr grosse wellenförmige Kissen in Grün- und düsteren Blautönen. Aus der Nähe, raue, gefiederte Blätter mit einem kräftigen Hauptstiel. Im Mund von kräftiger Konsistenz, bissfest, süsslich und leicht bitter. Grünkohl ist von angenehmer Bescheidenheit und hat zugleich einen lebhaften Geschmack.»
Slaters Gemüsebuch «Tender» (und später das gleichnamige Parallelwerk zum Obst) lehrte mich, dass die titelgebende Zuschreibung seine Prosa mindestens so genau charakterisiert wie das Gemüse, das er beschreibt.
In seinem kürzlich erschienenen «A Cook’s Book», das auch auf Deutsch so heisst, legt Slater die Dialektik seiner Leidenschaften selbst offen. «I am a cook who writes», schreibt er in der Einleitung, aber eben auch «I am a writer who cooks» – ich zitiere das auf Englisch, weil es so viel einfacher und schöner klingt als in der deutschen Übersetzung.
In «A Cook’s Book» erzählt Slater seine kulinarische Biografie in Rezepten, jedenfalls behauptet er das. Aber die berührenden Stellen verpackt er, wie schon bei «Tender», in die Einleitungen, Zwischentexte und Übergänge, so als ob er seinen Leserinnen und Lesern die Erkenntnis, dass ihre Rezepte von einem Poeten verfasst worden sind, ersparen möchte.
Ich streiche schon ein paar Minuten vor dem vereinbarten Zeitpunkt vor Nigel Slaters Haus herum, weil ich es hasse, unpünktlich zu sein. Da ich aber aus eigener Erfahrung weiss, dass schlimmer als unpünktliche Gäste nur die sind, die zu früh kommen, warte ich im Londoner Sprühregen, bis die Stunde schlägt.
«Nigel.»
Slater öffnet die Tür wenige Sekunden, nachdem ich geläutet habe, und streckt mir die Hand entgegen. Er strahlt eine heitere Gelassenheit aus, nimmt mir die Jacke ab und bittet mich einen Stock tiefer, in den Raum, wo der Ruhm dieses Mannes zu Hause ist, in die Küche.
Das Haus, in dem Nigel Slater lebt, ist ein geräumiges, vierstöckiges Townhouse aus graubraunen Backsteinen im Norden Londons. Es liegt an einer verkehrsreichen Strasse, eine Buslinie führt direkt vorbei. Nach hinten hinaus erstreckt sich, von der Strasse aus unsichtbar, ein langer, schmaler Garten, in dem sechs Gemüsebeete angelegt sind, jeweils von Buchshecken umgeben.
Slater kaufte sein Haus gerade noch rechtzeitig, bevor die Immobilienpreise in London vollends durch die Decke gingen. Er hat sich darin nicht eine, sondern zwei Küchen eingerichtet. In der ersten, die das gesamte Untergeschoss umfängt, kocht und schreibt Slater. Er musste dafür eine ehemalige Einliegerwohnung «in einem langen, langen Jahr» wieder ihrer ursprünglichen Bestimmung zuführen, denn hier hatte sich – «ein Aha-Moment erster Güte» – die ursprüngliche Küche des Hauses samt ihren Vorratsräumen befunden.
Der hell gestrichene Raum, dessen Umbau ihn «jeden Penny meiner Ersparnisse» kostete, ist in sanftes, indirektes Licht getaucht. Auf dem riesigen Küchenblock herrscht penible Ordnung. In einem versenkten Regal stehen unzählige handgemachte, helle Keramikbecher, die Slater, Freund der Kunst, mit der ihm eigenen Akribie sammelt.
Der Ort verströmt eine fast schon sakrale Ruhe, ein Motiv, das der Hausherr selbst immer wieder aufnimmt und reproduziert. Er schätzt den Frieden in dem Raum, der ihm ein Arbeitsplatz ist, «der mich aufmuntert», und in dem er «einen Grossteil meines Tages» verbringt.
Das Kochen selbst, aber auch die Vorbereitung, das Waschen, Zerkleinern und Schneiden der Zutaten, empfindet Slater als eine «heitere Tätigkeit», als «eine Art Meditation und Therapie». Sein Garten hingegen ist ihm ein «klösterlicher», einsamer Ort. Ein grösserer Kontrast zwischen der Innenwirkung von Haus und Garten und der monumentalen Aussenwirkung dessen, was hier entsteht, ist kaum vorstellbar.
In der kleineren zweiten Küche im Obergeschoss empfängt Slater in der Regel Gäste, hier entstehen auch die meisten Fotos für seine wöchentliche Kolumne. Diese Arbeit prägt seinen Alltag seit mehr als drei Jahrzehnten.
Slater zeigt sich höchst dankbar dafür, dass ihm der «Observer», die Sonntagsausgabe des «Guardian», nach wie vor den Platz einräumt, zu tun, was er am liebsten tut: zu kochen und darüber zu schreiben. «Es scheint mir immer noch unwirklich», sagt er und erzählt, vielleicht eine Spur kokett, dass er immer noch zusammenzuckt, wenn ihn seine Redakteurin anruft. «Ich halte nie etwas für selbstverständlich», sagt er. «Auch nach dreissig Jahren nicht.»
Ich bin for tea eingeladen und darf aus einem reichen Angebot an Teesorten spektakulär schöne Grünteeblätter, die mit Osmanthusblüten aromatisiert sind, auswählen. Ausserdem hat Nigel gebacken, einen Haselnuss-Schokoladenkuchen und mehrere Sorten von Keksen, die ich bewundern darf, während er auf umständliche Weise den Tee zubereitet, das Wasser in einer eigenen Kanne abkühlen lässt, dabei ständig das elegante, kleine Thermometer kontrolliert, das wie sämtliche andere Gebrauchsgegenstände in dieser Küche von ausgesuchter Schönheit ist.
«Warum», schreibt Slater in «A Cook’s Book», «sollte ich mit einem Plastikgegenstand kochen oder auch nur abwaschen wollen, wenn ich die sanften Farben von Holz oder Porzellan oder Ton haben kann?» Und warum sollte er auf einer hässlichen Skala nachschauen, ob die Wassertemperatur endlich die 60° C erreicht hat, die ideal sind, um «diesen speziellen» grünen Tee damit aufzugiessen?
«Ein Keks?», fragt mich Nigel.
Ich nicke, zurückhaltender als ich eigentlich bin, und nehme von jeder Sorte nur einen. Nigel auch. «Als Kind», sagt er, «habe ich mich praktisch ausschliesslich von Süssigkeiten ernährt.»
Die Geschichte dieser Kindheit ist in England inzwischen Schulbuchliteratur. Das kam so: Eines Tages rief – Alarm! – die Redakteurin des «Observer» an, nicht um Nigel Slater, wie dieser befürchtete, die Mitarbeit aufzukündigen, sondern um ihn zu bitten, doch über die Geschmäcker seiner Kindheit zu schreiben.
Das tat Slater gern. Allerdings liess er sich dazu hinreissen, persönlicher zu werden als sonst, wenn Lebensmittel und ihre Verwandlungen die Hauptrollen in seinen Geschichten übernehmen. Er war unsicher, als er den Text abschickte, und er sah sich in seinen Zweifeln bestätigt, als bald darauf wieder sein Telefon klingelte. Aber die Redakteurin hatte an der Geschichte nichts auszusetzen, im Gegenteil, sie war begeistert. Sie fragte Slater, ob er nicht etwas Längeres daraus machen könne, ein Buch zum Beispiel.
Toastbrot
Das Buch bekam den Titel «Toast. The Story of a Boy’s Hunger». Die Geschichte ist, auch wenn es dauernd irgendwie ums Essen geht, von berührender Tragik, voll kindlicher Verzweiflung und unbestimmter Sehnsucht, Einsamkeit und sexueller Verwirrung.
Slater erzählt von seiner Mutter, die, weil sie nicht kochen konnte, immer nur Toast servierte. Er erinnert sich, wie es zu Hause zu Weihnachten roch, nach warmen, süssen Früchten, nach einem Kuchen im Ofen, einem heissen Bügeleisen, einem Golden Retriever, der sich beim Herd zusammenrollte, dem 4711-Parfüm seiner Mutter – und nach dem Urin seiner Tante Fanny, die im hohen Alter verlässlich in die Hosen machte.
Er erzählt von seinem Vater, der ihn nach dem plötzlichen Tod der Mutter mit Süssigkeiten fütterte, weil es ihm nicht gelang, etwas Besseres auf den Tisch zu stellen – «ich habe ihm einige Zahnarztrechnungen zu verdanken.» Aber er spart auch dessen Wutausbrüche nicht aus, weil der Bub keine Eier mochte und das Rührei hinunterwürgen musste, bis er kotzte (Eier isst Slater bis heute keine, und Milch mag er auch nicht, ausser sie ist eiskalt).
Er erzählt, wie sein Vater jedes Mal, wenn er ihm etwas zu essen gab, deprimiert zuschaute, wie es dem spindeldürren Sohn schon wieder nicht schmeckte, wie er in seinem Essen herumstocherte und es auf dem Teller hin und her schob: «Die Enttäuschung meines Vaters über seinen jüngsten Sohn ist so offensichtlich, dass man sie auf einen Teller packen und essen könnte.»
Und er erzählt von vielen Tränen. Er weinte am Tag, als sein Vater vergessen hatte, ihm wenigstens eine Dose mit Bohnen und Wurst in den Ofen zu stellen, damit der Bub sie sich aufwärmen konnte: «Mein Vater hatte es vergessen. Der Hund, der es hasste, allein gelassen zu werden, hatte auf den Küchenboden gepinkelt. Ich fand eine geöffnete Packung Ritz-Cracker, setzte mich hin und ass sie, wobei mir salzige Tränen übers Gesicht liefen. Es war nicht so, dass ich die Bohnen und Würstchen aus der Dose überhaupt mochte. Mir gefiel nur der Gedanke, dass jemand daran gedacht hatte, mir etwas zu essen dazulassen.»
Zuerst tröstet den Buben der Geschmack von Süssigkeiten, etwa des Marshmallows, das ihm sein Vater neben das Bett legt und das den Gutenachtkuss ersetzen muss, den ihm seine Mutter nicht mehr geben kann. Dann beginnt er aber zu ahnen, dass Essen anders, besser, grossartig schmecken kann, und diese Ahnung erfüllt ihn mit dem Wunsch, diesen Geschmack selbst herzustellen: jene Tätigkeit auszuüben, die ihm wegen der Gefahr heisser Herdplatten oder siedenden Wassers von den Eltern verboten wurde, die er aber als fehlendes Verbindungsteil zwischen seiner Sehnsucht und ihrer Erfüllung identifizierte. Er wollte kochen.
«Toast» wurde ein riesiger Erfolg. «Viele Menschen schrieben mir, sie hätten in meiner Kindheit ihre eigene wiedererlebt.» Das Buch wurde verfilmt, kam als Schauspiel auf die Bühne, wurde für den Schulunterricht kanonisiert. «Erstaunlich», sagt Slater, «bei all diesen doch ziemlich heftigen Stellen im Text …»
Noch als Teenager zog er jedenfalls aus der mittelenglischen Kleinstadt Penn nach Worcestershire, um dort die Chantry High School zu besuchen. Als einer von zwei Knaben unter lauter Mädchen wählte Nigel das Fach Hauswirtschaft und Kochen.
«Ich bezeichnete mich viele Jahre lang als Koch, der schreibt», sagt Slater, als wir am Küchentisch sitzen, den Haselnuss-Schokoladenkuchen kosten, der wie erwartet köstlich ist, und darauf warten, dass das Wasser für den grünen Tee endlich auf die erforderten 60°C abgekühlt ist. «Ich wollte immer Koch in einem Restaurant werden – bis ich es war und merkte, dass eine Restaurantküche nichts für mich ist. Ich hasste den Lärm. Ich hasste es, im Team zu arbeiten. Alles, was ich wollte, war, Menschen etwas Gutes zu essen zu machen und dabei ungestört zu sein.»
Nach den gescheiterten Versuchen in Restaurantküchen heuerte er in einem kleinen Londoner Café an, wo er allein für die Küche zuständig war, kochte und servierte und ohne Stress «gute, einfache» Speisen zubereiten durfte. Im Café lernte er eine Kundin kennen, die ein Food-Magazin namens «Alacarte» herausbringen wollte. Sie fragte den jungen Mann in der Küche, ob er nicht die Rezepte kontrollieren könne, die im Heft erscheinen sollten. Das übernahm Nigel gern. Er bereitete die Gerichte gemäss Anleitung so sorgfältig und hübsch zu, dass ihn die Herausgeberin des «leider ein bisschen dummen Food-Magazins» fragte, ob er nicht eine eigene Rezeptkolumne übernehmen wolle.
«Ich erinnere mich ganz genau an den Tag, als die erste Ausgabe mit meiner Kolumne in der Post war», sagt Slater, «und suchte die Seite mit meinem Rezept. Darüber stand mein Name. Ich hatte das Gefühl, ein Ziel erreicht zu haben, das ich mir niemals gesteckt hatte. Ich war im Glück.»
Herz und Seele
Er war im Glück, ohne zu wissen, dass ihm die Kolumne das Tor zu einem neuen Beruf öffnen würde. Es dauerte nicht lang, bis jemand beim Frauenmagazin «Marie Claire» den unbekannten Alacarte-Kolumnisten entdeckte und ihn in eine deutlich auflagenstärkere Umgebung lotste. Fünf Jahre lang kochte und schrieb Nigel Slater für die «Marie Claire», bis ihn schliesslich der Anruf des «Observer» erreichte, im kommenden September ist das dreissig Jahre her. Seit damals kocht Nigel Slater Woche für Woche drei bis fünf Rezepte, die jeweils am Sonntag erscheinen.
Er kocht jedes Gericht selbst, erledigt den Einkauf, die Vorbereitungen, richtet die Teller an und macht den Abwasch. Er hat keine Assistenz ausser einem professionellen Tester, der jedes Rezept nachkocht und überprüft, bevor es ins Blatt oder in ein Buch gerückt wird.
Der Fotograf ist seit fünfunddreissig Jahren Jonathan Lovekin, dessen sensible, fast überempfindliche Landschafts- und Reportagefotografie Slater so bewunderte, dass er ihn fragte, ob er nicht auch Food-Photography mache. Seither arbeiten die beiden ohne Unterbrechung zusammen. Sie nehmen sich Zeit, um jedes Gericht, das fotografiert wurde, gemeinsam aufzuessen. Das gemeinsame Werk ist auf elf Kochbücher angewachsen, und beide sind einander nicht überdrüssig.
Wir sprechen über Wahrheit und Melancholie. Melancholie ist ein Motiv, das mir stets in den Sinn kommt, wenn ich Slaters Texte lese, egal, ob er Impressionen aus seinem Garten aufschreibt oder über das Abwägen von Möglichkeiten berichtet, das dem Aufschreiben eines Rezepts vorangeht.
Vielleicht entspringt dieser melancholische Grundton der konzentrierten Ruhe in diesem Raum, sagt er, wo drüben auf dem Herd etwas entsteht, schmurgelnd und duftend, während er selbst an dem Tisch, an dem wir gerade sitzen, Notizen in eines der unzähligen Notizbücher kritzelt, mit den grossen, runden Buchstaben, die so unglaublich viel Platz brauchen, dass Nigel schon über tausend Kladden vollgeschrieben hat, aus Angst, auch nur ein Detail zu vergessen.
Keine Musik, auf keinen Fall. Die Unmittelbarkeit des Prozesses prägt die Innigkeit seiner Prosa. «Würde ich mich am nächsten Tag an den Moment erinnern müssen, in dem auf dem Herd etwas Entscheidendes passiert, würde ich es nicht mehr hinbekommen.»
«Wahrheit», sagt er, «bedeutet für mich, die wahre Geschichte eines Rezepts zu erzählen.» Diese Geschichte beginnt in der Regel beim Einkauf. In den Geschäften rund um sein Haus begegnet er seinen nächsten Geschichten fast automatisch. «Ich sehe die ersten Kastanien und habe eine Idee. Oder ich stosse auf dieselbe Apfelsorte, die meine Eltern im Garten angebaut haben, und weiss, was ich erzählen will. Wenn ich mit diesen Dingen in der Tasche auf dem Weg nach Hause bin, fühle ich mich wahrhaftig und aufrichtig.»
Von sich selbst verlangt er, dass ein Rezept «heart and soul» hat, Herz und Seele. Damit meint er zwei Dinge. Man muss erkennen, warum gewisse Zutaten gemeinsam auf einen Teller gehören. Und er beharrt auf den Verzicht von Dekor «wie bei zahllosen Rezepten, wo es nur darum geht, dass sie bei Instagram gut aussehen, weshalb plötzlich überall Granatapfelkerne auf dem Teller lagen.»
Rezepte, die zu technisch oder zu «cheffy» sind, was eine Umschreibung für komplizierte Autorenküche ist, mag Slater sowieso nicht, so wie er auch den Publikationen grosser Küchenchefs misstrauisch gegenübersteht. «Meine These ist: Je mehr Fotos vom Küchenchef in einem Buch sind, desto weniger hat er tatsächlich zum Buch beigetragen.»
Verklemmte Feinschmecker
Slaters Küche hingegen ist weniger von genuiner Kreativität geprägt als von permanenten Weiterentwicklungen und Verbesserungen klassischer Rezepte. In seinem «Küchentagebuch» formuliert er sein kulinarisches Programm so: «In der Küche bin ich weder schludrig noch besonders pedantisch (ich habe nichts für verklemmte Feinschmecker übrig; sie machen den Eindruck, als hätten sie wenig Spass). Ebenso wenig bin ich jemand, der versucht vorzuschreiben, wie man etwas machen sollte, und ich bin am glücklichsten, wenn Leser mein Rezept einfach als Inspiration für ihr eigenes nutzen. Wenn wir ein Rezept Wort für Wort befolgen, lernen wir nicht wirklich, wir haben nur am Schluss ein fertiges Essen.»
So sympathisch mir diese Art zu kochen ist, sie hat auch Gegner. Zum Beispiel schrieb ein deklarierter «Pedant in der Küche» namens Julian Barnes eine leider ziemlich brillante Dekonstruktion von Slaters Schweinskoteletts mit Chicorée aus «Real Food».
Der hochdekorierte Schriftsteller Barnes, der sich in Rezepten Grammangaben für die Menge gehackter Zwiebeln und genaue Durchmesser der zu verwendenden Pfannen wünscht, erblickte in Slaters «freundlicher Art, die in Zeiten von Stress leicht irritierend wirken kann», falsche Versprechungen und argumentierte das gekonnt durch.
Als ich Nigel auf Barnes’ Pedanterie anspreche, stöhnt er laut auf.
«Eigentlich», sagt er, «müsste ich geschmeichelt sein, in einem Text dieses unglaublichen Autors vorzukommen» und zählt kundig die literarischen Verdienste von Barnes auf, die Leichtigkeit seiner Sprache, das Kunstverständnis, den Witz. «Aber ich war tief getroffen.»
Sowohl Slater als auch Barnes sind Sammler des südafrikanischen Künstlers William Kentridge. «Ich begann sehr früh, Bilder von William zu sammeln, als man sich das noch leisten konnte», sagt Slater. Bei einem Atelierbesuch vor einer Verkaufsausstellung betrachtete er eines der Werke des inzwischen weltberühmten Kentridge, als er plötzlich spürte, dass jemand direkt hinter ihm stand. Slater drehte sich um. Barnes schlug die Augen nieder und hauchte: «Ist mir vergeben?»
Natürlich, sagte Nigel, bezaubert vom Charme des Schriftstellers. «Aber innerlich dachte ich mir: Eigentlich nicht!» Erst, als Slater Jahre später ein Bild von Kentridge kaufen konnte, von dem er wusste, dass auch Julian Barnes es für sein Leben gern besessen hätte, dachte er: «Jetzt sind wir quitt.»
Nun ist Kritik nicht die Regel, sondern die Ausnahme unter den Reaktionen, die Nigel Slater erfährt. Wenn am Sonntag gegen halb elf seine Kolumne online gestellt wird, ergiesst sich ein Strom an Zustimmung durch seine Social-Media-Kanäle, die ihn «den ganzen Sonntag lang beschäftigt». Slater ist der Meinung, dass die fünf Minuten, die sich jemand nimmt, um ihm zu schreiben, mindestens ein persönliches Dankeschön wert sind, und erledigt auch diese kontinuierlich anschwellende Arbeit – die Zahl seiner Instagram-Follower nähert sich der halben Million – persönlich.
Vielleicht besteht das Erfolgsrezept Slaters ja darin, stets die Zeit vor Augen zu haben, die jemand mit seiner Arbeit verbringt. «Es ist ein totaler Horror für mich, dass Menschen ihre Lebenszeit darauf verwenden, ein Rezept von mir zu kochen – und es klappt nicht. Immer wenn mich auf der Strasse jemand anspricht und sagt: Ich habe deinen Schokoladenkuchen gebacken, zucke ich innerlich zusammen und bereite mich darauf vor, mich in den Staub werfen zu müssen. Es ist meine grösste Angst, Menschen ihre Zeit geraubt zu haben.»
Passiert selten, aber passiert. Einem Weihnachtsrezept fehlte der Zucker, endlose Entschuldigungen und Richtigstellungen folgten. Häufiger aber sind Kommentare wie dieser: «Hallo, Nigel. Wir sind in unserer Ehe zu dritt. Meine Frau nimmt immer ein Buch von dir mit ins Bett.»
Eine englische Leserin fertigte ein Gesamtverzeichnis aller jemals erschienenen Slater-Rezepte an, «was für mich ausgesprochen praktisch war». Eine japanische Leserin schickte Alben mit den Fotos aller Slater-Rezepte, die sie zubereitet und mit ihren eigenen Kommentaren versehen hatte. «Diese Bücher gehören zu meinen kostbarsten Besitztümern.»
Slater kocht jeden Tag. Er kocht, weil er muss, und er kocht, weil er will. «Mein Leben besteht aus Resten», sagt er mit Blick auf den riesigen Kühlschrank, in dem alles, was übrigbleibt, verschwindet, um später noch einmal verwendet zu werden. Weggeschmissen wird nichts. Manchmal bekommt Jonathan, der Fotograf, ein Doggybag mit, manchmal ein Besucher, der zum Tee gekommen ist und die Kekse nicht aufgegessen hat (und der glücklicherweise ich bin). Nigel, ganz offensichtlich für solche Fälle ausgerüstet, packt mir insgesamt drei Schälchen mit Sesam-Schoko-, Pinien-Rosen-Keksen und seiner hinreissenden Version von Baklava voll, die ich als Trophäe nach Hause schleppen darf.
Auf dem Weg hinaus erzählt er mir noch, dass ihn jeden Abend sein letzter Weg vor dem Schlafengehen zum Kühlschrank führt, um nach dem Rechten zu sehen – und einen letzten Bissen zu nehmen.
«Eine Fingerspitze voller Hummus, ein Löffel kalter Pflaumencrumble oder, Freude aller Freuden, ein kaltes Würstchen neben dem Senfglas.» So beschreibt Slater die sündige Freude, die er sich täglich gestattet, in «A Cook’s Book».
«Heute Abend wird es ein Stück Schokoladenkuchen sein, vielleicht so gross» – er zeigt mit Daumen und Zeigefinger einen Abstand von vielleicht zwei oder drei Zentimetern an – und ich fühle mich ertappt, weil ich mir gerade überlegt habe, ob ich gleich draussen auf der Strasse anfangen soll, meine Doggybags zu plündern.
«Vielleicht auch noch ein kleiner Löffel von dem Rahm», sagt Nigel, der offenbar schon eine genau Vorstellung davon hat, wie er seinem Kühlschrank gute Nacht sagen möchte.
«Ach ja», sagt er dann und bleibt stehen. «Du hast mich doch gefragt, warum ich Kochen meditativ finde. Als ich vorhin den Rahm geschlagen habe – ich habe etwas Kardamom hineingegeben, es hat gut gepasst, nicht wahr? –, habe ich auf diesen besonderen Moment gewartet, wenn der Rahm plötzlich dick wird und ich mit dem Schneebesen seinen zunehmenden Widerstand spüre. Diese Kleinigkeiten sind für mich die Essenz des Kochens – und des Lebens.»